Sonntag, 30. September 2007

Ein Volk in Trauer

Alles ist aus. Gestern war es endgültig soweit. Die Demokratie gelangte an ihre Grenzen, die Spielregeln wurden wieder von oben und nicht mehr vom Volk diktiert. Oben ist in diesem Fall der TV-Sender Globo. Der hatte sich im vergangenen halben Jahr und mehr als 170 Kapiteln geradezu erstaunlich nachgiebig der Meinung des Publikums gebeugt. Eigentlich war ja die Telenovela „Paraíso Tropical“ ganz anders geplant gewesen. Eigentlich hätten Ehrgeizling Olavo und Nutte Bebel nur Nebenrollen spielen sollen. Und jeder weiß, dass Telenovelas nicht das wirkliche Leben sind. Aber Gutmensch Daniel und seine bieder-treue Paula, die für die Hauptrolle vorgesehen war, blieben nicht nur unglaubwürdig, sondern langweilten entsetzlich: Sollte es solche Menschen wirklich geben, muss man die nicht auch noch kennenlernen.

Olavo und Bebel hingegen! Sex, Lies und Romantik. Die sympathische Copacabana-Nutte, die jedem ihre Meinung sagt und gleichzeitig so wunderbar blauäugig ist, wäre eine prima Freundin/Geliebte/Bekannte. Und bei Olavo klingen sogar Erpressungsversuche noch sexy. Und wenn sich dann noch zwischen den beiden die ganz große Liebe entwickelt... Das Leben in der Novela wird von den Einschaltquoten diktiert, also bekamen die beiden mehr und Frau Paula weniger Platz als ursprünglich vorgesehen. Was unter anderem dazu führte, dass Paraiso Tropical die erste Novela ist, bei der ich so ungefähr den Handlungsrahmen kenne. Ich bin ja immer noch Novela-Analphabetin: Normale Brasilianer verabreden sich abends für „nach der Novela“ – ich habe jahrelang keine Ahnung gehabt, wie viel Uhr das bedeutet. Normale Brasilianer diskutieren alle ethischen Probleme aus der Novela ausführlich mit ihren Freunden – so als diskutierten sie über Mißtritte im Bekanntenkreis: Für normale Brasilianer bedeutet die Novela eine Erweiterung des sozialen Umfelds.

Umgekehrt ist die Novela ein Spiegelbild der brasilianischen Gesellschaft. So eine Art größter gemeinsamer Nenner von Intellektuellen und Arbeitern. Die gucken nämlich alle zu. In Paraíso Tropical hat sich zum Beispiel das Publikum ausdrücklich gewünscht, dass das latent schwule Paar sich mehr zu seiner Liebe bekennen sollte – das führte zu Szenen des gemeinsamen Erwachens der beiden Männer im Ehebett, reichlich gewagt für eine Novela. Und die fiese Marion sollte nicht sterben, obwohl das ursprünglich so im Drehbuch stand. Was hat es wohl zu bedeuten, dass die Halunken diesmal so außergewöhnlich gut angekommen sind? Dass die ganze Nation die Nutte Bebel so ins Herz geschlossen hat, und Olavo seine Betrügereien verziehen hat? Haben wir uns hier so an die allgegenwärtige kriminelle Energie gewöhnt, dass ehrliche Menschen dagegen nur langweilig wirken können? Haben Korruption und Politikskandale uns rettungslos abgestumpft? Die Antwort wäre womöglich aus einem Showdown abzulesen, den das Publikum geschrieben hätte.

Hat es aber nicht. Für das letzte Kapitel war Drehbuchautor Gilberto Braga nicht mehr den Einschaltquoten, sondern Regisseur und Sender verpflichtet. Und die wollten, dass ganz schnell alle moralischen Werte wieder gerade gerückt werden. Weil vorher so viel aus dem Ruder gelaufen war, geriet das hektische Geraderücken streckenweise fast zum Slapstick: Für Familie und Treue mußten sich nicht weniger als vier getrennt lebende Paare ganz schnell wieder selig in die Arme fallen. Für Ordnung und Gerechtigkeit mußten drei Banditen noch schnell ihr Leben lassen – darunter auch Olavo. Marion hat zwar überlebt, muß aber ihr Geld mühselig durch Verkauf von Billigschmuck auf der Strasse verdienen. Und die langweilige Paula durfte triumphieren. Spaß gemacht hat das nicht.

Und jetzt ist alles aus. Keine Wetten mehr auf „wer ist der Mörder von Taís“, wofür sich zeitweise mehr Leute interessiert haben, als für die Absurditäten des Senatspräsidenten. Keine Bebel, kein Olavo, keine Marion. Ist ein bißchen so als habe man sich mit den Freunden zerstritten, die man sonst jeden Abend getroffen hat. So als sei ganz Brasilien plötzlich umgezogen und verliere seine vertrauten Nachbarn.

Morgen soll alles wieder von vorne losgehen: Morgen beginnt die neue Acht-Uhr-Novela. Mit neuen Intrigen, neuen Freunden und womöglich sogar neuen Einflußmöglichkeiten via Einschaltquote. So will es das Oben. Und das Volk? Das trägt noch Trauer.

38 Grad sind zu viel für den Weihnachtsmann

Natürlich gibt es hier Weihnachtsmänner. Auch wenn Weihnachten so gar keine tropische Tradition ist. Es gibt sogar Weihnachtsverkäuferinnen, Weihnachtskassiererinnen, Weihnachtsparkwächter und Weihnachtsköche. Will sagen: Die brasilianischen Unternehmer lieben das Weihnachtsfest und seine Symbole so, daß sich spätestens vier Wochen vor dem Fest alles eine rote Weihnachtsmütze mit weißem Bommel überstülpen muss, was irgendwie Publikumsverkehr hat. Was ich noch nicht gesehen habe, sind Geschäftsführer oder Banker mit roten Mützen. Hübsch wären auch mal Weihnachtspolizisten. Vielleicht ist deren Job zu ernst für die Mütze.

Vielleicht hat aber auch nur das Budget der Stadtverwaltung nicht gereicht und sie bekommen ihre Mützen im nächsten Jahr. Die Geldknappheit in den Stadtkassen ist leicht erklärt: Die Stadtverwaltung erläßt den Einkäufern gerade in diesen Wochen, in denen die Läden sogar sonntags öffnen und der ganze Nordosten in Recife sein letztes Geld auszugeben scheint, sämtliche Parkgebühren. Überall, wo Parken am Strassenrand erlaubt ist, parkt man im Dezember umsonst. Das muß man sich mal in München, Berlin oder Düsseldorf vorstellen. Ein Millionengeschäft lassen die sich hier entgehen. Weihnachtsbegeisterte eben.

Aus Begeisterung hängen jetzt außerdem alle Hausbesitzer Lichterketten auf: die günstigsten gibt es für knapp einen Euro, da reicht das Geld bei den meisten Familien sogar für zwei oder drei der schmückenden Accessoires. Besonders beliebt sind solche, die in mehreren Farben blinken, wie früher auf Schulparties – und noch besser kommen die an, die zusätzlich einen internationalen Weihnachtshit à la „Jingle bells“ musizieren. Praktischerweise wird es in den Tropen schon um sechs Uhr abends dunkel, da können die trötenden Lichterketten und ihre Besitzer sich besonders ausgiebig selbst verwirklichen. Manchmal wetteifert eine ganze Strasse um die hellsten, buntesten und lautesten Ketten, und manchmal singen die Dinger sogar im Kanon. Dass niemand Probleme hat, bei der visuellen und akustischen Berieselung zu schlafen, muß ich wohl nicht extra erklären.

Vermutlich bin ich die einzige im Großraum Recife, der es trotzdem nicht recht gelingen will, eine Weihnachtsstimmung zu entwickeln. Trotz Weihnachtsmützen, Weihnachtslichterketten und Weihnachtsbäumen voller Flitter und Kugeln. Bei Kiefern und Tannen handelt es sich normalerweise um liebevolle, nahezu naturidentische Nachbildungen aus Plastik. Im Vorgarten werden aus Tannenmangel gerne mal Bananenstauden verpflichtet. Bananen am Weihnachtsbaum? Kann vorkommen. Sogar Palmen können Kugeln tragen, und selbst Birkenfeigen steht Lametta gar nicht schlecht.

In Schaufenstern hingegen bemühen sich die Dekorateure erfolgreich um höchstmögliche Authenitizität: von Elchen gezogene Schlitten sausen da auf Watteschnee durch die vollklimatisierte Gegend. Auf den schicken Schlitten thronen Weihnachtsmänner mit Rauschebärten und dicken Bäuchen und sehen sehr ehrwürdig aus. Ihre lebenden Kollegen auf der Strasse haben mehr zu tun. Pausenlos säuseln sie diensteifrig in ihr Mikro: „Treten Sie näher meine Damen und Herren, nie hat es so billige Uhren gegeben, wie heute hier im Uhrenparadies“, behaupten sie - oder was der Job eben sonst verlangt. Dabei läuft Ihnen der Schweiß unter der Mütze aus Synthetik hervor und rinnt bis in die Rauschebärte aus Watte. Gelegentlich kratzen sie sich verstohlen unter dem dicken Bauch. Weihnachten ist eben so gar keine tropische Tradition. Und 38 Grad Hitze sind zu viel für jeden Weihnachtsmann.

Donnerstag, 27. September 2007

Ich habe nicht gefurzt

Lobao ist dann doch noch was eingefallen. Der Rocksänger, der in den wilden 80ern schon mal wegen Wildheit aus seiner eigenen Band rausgeschmissen wurde, hat vorgestern bewiesen, dass ihm immer noch was einfällt.

Die meisten wissen schon lange nicht mehr, was sie sagen sollen, angesichts der hemmungslosen Korruption ihrer Politiker. „Ich schäme mich, Brasilianer zu sein“, schrieb ein in Italien lebender Brasilianer gar angesichts der jüngsten Senats-Entscheidung. Dessen Präsident, der ja eigentlich seinen Kollegen mit gutem Beispiel vorangehen sollte, tut seit Monaten geflissentlich das genaue Gegenteil. Eine Ex-Geliebte mit Kind tauchte auf, die reichlich Unkosten verursachte. Ein Privatunternehmer wurde gefunden, der all diese Unkosten womöglich bezahlt hat. Landwirtschaftliche Aktivitäten des Senatspräsidenten erschienen aus dem Nichts und sollten dessen Finanzstärke erklären – weil Calheiros natürlich beteuerte, er habe all das schöne Geld selbst an die Ex-Geliebte und den gemeinsamen Sohn gezahlt. Immer neue Erklärungen hat der Politiker gefunden. Trotzdem hat ein Parlementskollege den Fall vor die Ethik-Kommission gebracht. Nicht etwa jemand aus der Opposition – die fürchtet wohl Scherben im Glashaus – ein Vertreter einer Minipartei hat es gewagt, das Vorbild infrage zu stellen.
Die Kommission werde seine Unschuld beweisen, tönte der Senatspräsident daraufhin vollmundig und wies weiter all die fiesen Vorwürfe heftig und entrüstet von sich.

Inzwischen hat die Ethik-Kommission fertig recherchiert. Calheiros’ vorgebrachten Beweise sind keine, hat sie herausgefunden: Rinder haben ihn nicht reich genug gemacht, um die umfangreichen finanziellen Bedürfnisse seiner Ex-Geliebten zu befriedigen. Die Landwirtschaft war eine Art Second Life – frei erfunden. Es ist nicht nachgewiesen, woher die Unterhaltszahlungen kamen – Calheiros Behauptung, er sei finanziell dazu in der Lage gewesen, ist eine Lüge. Sagt die Ethik-Kommission. Und weil es in der Geschichte teilweise um Straftatbestände geht, hat sie den Fall Calheiros an den Obersten Gerichtshof weitergegeben - der allein kann Parlamentsangehörige richten. Und Calheiros? Calheiros leugnet weiter, ohne auch nur rot zu werden. Klammert sich an seinen Präsidentensessel und ruft: „Von diesem Stuhl kriegt mich keiner runter!“

Bisher ist ihm das sogar gelungen: Mit 46 Stimmen haben ihn seine Senatskollegen in der letzten Woche in geheimer Abstimmung vom Vorwurf freigesprochen, die Würde des Senats zu verletzen. Will sagen: Der Vorsitzende des Senats kann öffentlich lügen und betrügen, ohne dadurch die Würde des politischen Organs zu verletzen, dem er vorsteht.

Als hingegen letztens der Rocker Lobao ordentlich gekleidet zum Interview im TV-Sender „TV Senat“ antrat, bat der Programmdirektor den Sänger höflich, doch das T-Shirt zu wechseln, weil es nicht so gut in den Senats-Sender passe. Ob der Programmdirektor meinte, er müsse mit seinem Sender die Vorbildsfunktion erfüllen, die Calheiros offensichtlich schnuppe ist? Lobao jedenfalls hat sein T-Shirt nicht gewechselt. „Erst, wenn Ihr auch den Senatspräsident wechselt“, hat er gesagt.

Lobao ruft mit seinem Shirt zu einer neuartigen Anti-Korruptions-Bewegung auf. Die Idee kommt gut an: Sängerkollege Caetano Veloso hat sich bereits auf seine Seite gestellt, und im Internet haben sich reichlich Interessenten für das neue T-Shirt geoutet. Manche wollen das klassisch schwarze Shirt mit weißer Aufschrift am liebsten gleich an den Senatspräsidenten schicken. „Ich habe gefurzt“, steht da groß drauf. Und darunter: „aber ich war’s nicht.“ (Peidei, mas nao fui eu)

Sonntag, 23. September 2007

Geschenkte Träume

Die Hoffnung ist der Reichtum der Armen, habe ich gelesen. Wenn einer also einem eine falsche Hoffnung schenkt, ist die dann - ausser einer Illusion - so etwas wie Glasperlen für Indios - schön glitzernd und gefühlt ebenso wertvoll wie echte Edelsteine? Oder eher so etwas wie ein hübsch anzusehender aber doch schon länger gelagerter Fisch – der erst beim Braten anfängt zu stinken?

Letztens war ich in der Cidade de Deus – in Deutschland besser bekannt als „City of God“. Kurz vorweg: Die Cidade de Deus ist eine der mehr als 600 von der Drogenmafia beherrschten Favelas auf den Hügeln von Rio, und ich bin nicht lebensmüde. In der Cidade de Deus leben nicht nur Killer, sondern auch friedliche Menschen. Nicht jeden Tag gibt es Schießereien, und sogar Ausländer können Favelas betreten, ohne automatisch in Lebensgefahr zu geraten. Zum Beispiel, wenn sie zusammen mit einem Bewohner unterwegs sind. Ich bin mit Gisele gekommen, Gisele lebt in der Cidade de Deus - und sie steht für eine kollektive Hoffnung.

Es ist Samstag nachmittag, die Sonne knallt auf rissigen Asphalt voller Schlaglöcher und schickt ihre Strahlen durch das Oberlicht des Gemeinderaums aus unverputztem Backstein. Zwei Duzend Köpfe drehen sich zum Eingang, als Gisele eintritt; dünne und pummelige, schüchterne und freche, kindliche und kokette Mädchen zwischen sechs und sechzehn gucken erwartungsvoll auf die große Frau im Baseballkäppi mit dem ansteckenden Lächeln. Jeden Samstag unterrichtet Gisele ehrenamtlich alle Interessierten. Davon gibt es viele, vor allem Mädchen. Weil in Brasilien neun von zehn Mädchen davon träumen, Model zu werden. Unten in Copacabana in den schicken Mittelklasse-Appartments genau so wie hier oben in den unverputzten Häusern.

Streng fordert die Lehrerin alle Schülerinnen auf: „High Heels anziehen und aufstellen!“ Manche balancieren in zwei Nummern zu großen Schuhen, andere schlingern unsicher auf Stöckel-Havaianas, die meisten gucken trotzdem so cool, als trügen sie nie Schuhe mit weniger als zehn Zentimetern Absatz. Auch die ganz Kleinen. Dann schallt Musik aus dem Ghettoblaster und Gisele klatscht in die Hände. Los geht der Catwalk über den nackten Beton. Einmal die ganze Länge der Mehrzweckhalle entlang, anhalten, in den Hüften wiegen, umdrehen und noch mal die ganze Länge zurück.

Wie angehende Models sehen sie nicht aus. Ein winziges Mädchen guckt so grimmig, als müsse sie erst ihre eigene Angst besiegen. Eine andere schleicht geduckt, als erwarte sie Schläge. Eine dritte schreitet wie eine Ballerina –viel Charisma, aber höchstens ein Meter sechzig Körpergröße. Gisele nimmt sie alle ernst. Richtet die Geduckte vorsichtig auf, bis sie zehn Zentimeter größer wirkt. Läuft der Grimmigen voran, bis sie ein winziges bißchen lockerer wird. Und noch mal und noch mal und noch mal. In der Pause erklären die Mädchen mir ihren Traum: berühmt werden, viel Geld verdienen, reisen, Interviews geben, Stars treffen.

Der erste Star ihres Lebens ist ihre Lehrerin beim Catwalk. Gisele Guimarães, aufgewachsen in der Cidade de Deus, hat einen Vertrag als Model bei der internationalen Agentur Elite. Deren Büro im Nobelviertel Leblon hat nicht mal ein Schild an der Tür– um Massenandrang zu vermeiden. Geschafft hat die 21jährige Gisele das mit ihren meterlangen schlanken Beinen, schmalen Hüften, kleinen Brüsten und dem hüftlangen, glatten, rotbraunen Haar. Sie trägt falsche Wimpern über den dunklen Augen und zaubert lustige Grübchen in ihr coververdächtiges Lächeln. Ihr Geld verdient Gisele immer noch in einem Restaurant in Leblon – weil sie immer noch kein professionelles Book hat, mit dem die Agentur sie besser verkaufen könnte. Aber der wichtigste Schritt ist geschafft, findet Gisele: Sie schämt sich nicht mehr, dass sie in der Cidade de Deus wohnt. „Klar kommen viele Models aus Favelas“, sagt sie, „aber die geben das nicht zu“.

Deswegen unterrichtet Gisele jeden Samstag ehrenamtlich die Mädchen hier im Catwalk. Zwei Stunden kostenloser Unterricht in Selbstbewußtsein, aufrechter Haltung, Rhythmus und Stolz. Auch wenn sie das so nicht sagt. Deswegen darf jeder an dem Kurs teilnehmen, unabhängig von Modelmaßen. „Wir versuchen die Mädchen erst mal her- und dann auch auf andere Träume zu bringen“, sagt Gisele.

Letztens waren schon mal Ausländer in der Cidade de Deus. Sie haben einen Dokumentarfilm für das ZDF gedreht. Über die Träume der Mädchen und über Gisele und den Unterricht. Gisele zeigt mir die Hauptdarstellerin, die das ZDF-Teams sich ausgesucht hat: Eine besonders magere kindliche Sechzehnjährige, deren Hüftknochen sogar in der Jeans auffällig herausstechen. Sie hat ein bißchen tiefliegende Augen, dunkle Locken und keine besonders auffallende Ausstrahlung.

Der Favela-Fotograf Tony Barros zeigt mir die DVD mit dem TV-Film, die ihm das Team gegeben hat: Den Fernsehleuten hat S. ihre Plüschtiere zuhause gezeigt und erzählt, wie sehr sie von einer Model-Karriere träumt. Schüchtern strahlt sie, als die Fremden sie in schicke Klamotten stecken und Tony eine professionelle Kamera in die Hand drücken, damit er Book-Fotos für sie machen kann. Ihr Mutter betont, sie würde die Tochter in der Karriere unbedingt unterstützen.

Und dann begleiten die Kameraleute das Mädchen ohne Modelmaße bis nach Leblon. Die Agentur Elite hält zweimal wöchentlich „open door“. Da dürfen sich alle vorstellen, die Model werden wollen. Mit und ohne Book. Wer gar keine Chancen hat, kommt nur bis ins Vorzimmer. Wer interessant aussieht und ins Bild paßt, darf rein zu den Bookern. Und wer ganz viel Glück hat, wird unter Vertrag genommen.

Die kleine Karawane mit der TV-Träumerin an ihrer Spitze gelangt bis zum Booker. Auch wenn der etwas gequält aussieht, als er sagt: „Du bist wirklich sehr hübsch. Aber leider ein paar Zentimeter zu klein. Wenn Du noch wächst, kannst du gerne nächstes Jahr wieder kommen.“ S. bemerkt das Gequälte nicht. Vielleicht ist sie sogar erleichtert, dass sich die Aufregung auf diese Art noch einmal verschoben hat. Erst nächstes Jahr wird sie ihren Traum der Realität zur Prüfung stellen müssen. Sie weiß nicht, dass sie ohne das deutsche TV-Team nicht über das Vorzimmer hinaus gekommen wäre.

So stakst sie weiter jeden Samstag über den rohen Betonboden, der flüchtige Doku-Ruhm verblasst jede Woche ein bißchen mehr, und wenn sie Glück hat, verblasst auch ihr großer Elite-Traum noch vor dem nächsten Jahr und macht einem anderen Platz. Als ob sie die geschenkte Glasperlenkette zwar schön finde, aber irgendwann doch in die Ecke legt. Oder den geschenkten Fisch gar nicht erst brät: Dann kann er auch nicht stinken.

Mittwoch, 19. September 2007

Fiktion und Fakten

Fakt ist: Die Eintrittskarten waren trotzdem innerhalb von einer Stunde ausverkauft. Für die Premiere von „Tropa de Elite“, morgen beim Film-Festival in Rio. Dabei gibt es den Film auf DVD schon für 5 Reais, und das seit Anfang des Monats in den meisten Grosstädten Brasiliens auf der Strasse. Weil auf noch nicht ganz erforschten Wegen eine Kopie über die Tontechnik beim Synchronisieren zu professionellen DVD-Raubkopierern gelangt ist. Natürlich ist das kriminell und illegal. Kriminelles und Illegales sind auch der Inhalt des Films, der als neues Grossereignis nach dem oscarverdächtigen „City of God“ gehandelt wird. Der Film ist brutal. Hervorragend fotografiert. Unglaublich erschreckend. Und Fiktion. Behauptet jedenfalls Drehbuch-Co-Autor Rodrigo Pimentel.

Es geht um einen Hauptmann der Eliteeinheit BOPE, die in Rio hochriskante Missionen vor allem im Kampf gegen die Drogenmafia übernimmt. Was der Film zeigt, ist Krieg. In dem die Spezialtruppen Verdächtigen mal eben eine Plastiktüte über den Kopf stülpen, um sie zum Sprechen zu bringen. Auch wenn die Verdächtigen Kinder sind. Wenn diese gefolterten Kinder dann einen Mittler verraten, werden sie anschließend vom örtlichen Drogenboß erschossen. Einer der Hauptmannsanwärter ist nicht brutal genug für den Job. Weil „es im Krieg kein Verzeihen“ gibt – wie einer der Protagonisten sagt. Stimmt. Ein paar Studenten, die ihr soziales Gewissen und ihren Bedarf an Drogen in der Favela befriedigen wollen, läßt der Boss „in die Mikrowelle“ stecken. Das bedeutet, sie werden in einen Turm aus aufgeschichteten Reifen gestellt, mit Benzin übergossen und angezündet.

Viele der BOPE-Anwärter sind korrupt. Lassen sich von der Drogenmafia bezahlen, dass sie rechtzeitig Tipps geben, wenn ein Polizeieinsatz bevorsteht. Haben ein paar Nutten in Copacabana laufen. Verkaufen Waffen an die Banditen und lassen sich in Kokain bezahlen. Und Hauptmann Nascimento erträgt das alles nicht mehr.

Fiktion, sagt Ex-BOPE-Hauptmann und Drehbuchautor Pimentel. Zufällig schrieb auch sein Nachfolger im BOPE, der inzwischen selbst ausgeschieden ist, am Drehbuch mit. So realistisch ist der Film geworden, dass ein paar Bope-Mitglieder seine Ausstrahlung gerichtlich verhindern lassen wollten. Ist ihnen nicht gelungen. Und vor dem Gerichtsentscheid hatten den Film ohnehin schon Zigtausende gesehen. Die Raubkopie. Ob und wie sehr die Kino-Einnahmen durch die Raubkopie beeinträchtigt werden, mögen die Vertreter von Paramount nicht abschätzen. Vorsichtshalber haben sie die Kino-Premiere vorgezogen. Und betonen, dass im Kino die Originalversion gezeigt wird – wogegen die Raubkopie nur die dritte Schnittversion sei, der diverse Spezialeffekte und Szenen fehlten. Den Fans ist das egal: Auf der Website des Hauptdarstellers freuen sie sich alle heftig auf den Kinostart.

Der Film ist also Fiktion. Aber zum Making-Of gibt es Fakten: Hauptdarsteller Wagner Moura brach beim Brachial-Training versehentlich einem Polizei-Ausbilder die Nase: Weil der ihn bis an seine psychischen Grenzen gebracht hatte. Ein Kleindarsteller konnte nach dem Training gar nicht mehr drehen: Er hielt sich inzwischen für einen echten Auszubildenden für den Bope. Die Drehbedingungen waren insgesamt realistisch: Die Darsteller in der „Ausbildung“ durften zur Strafe in eiskaltem Wasser stehen oder vom Boden essen – ganz wie die echten. Mitten in den Dreharbeiten wurde dem Team mal eben ein Kleinbus mit 90 Film-Waffen gestohlen. Und noch bevor der Film fertig war, wurde er gestohlen.

Ein Präzedenzfall in Brasilien, über den sich sogar die Regierung besorgt zeigt. Der Schauspieler, der im Film einen korrupten Luden und Militärpolizei-Hauptmann darstellt, hat dazu im richtigen Leben vor der Polizei aussagen müssen, weil er womöglich der erste war, der eine Raubkopie in die Hände bekam. Ein Geschenk eines Freundes, sagt der Schauspieler. Mag stimmen oder auch nicht. Regisseur José Padilha sagt : „Verbindungsmann zwischen dem Filmdieb und den Raubkopierern war ein Militärpolizist – was die Theorie des Films nur beweist.“

Und das ist das Erschreckende. Der BOPE, der in den 70er Jahren gegründet wurde, gilt als eine der weltbesten Polizei-Spezialeinheiten –ein Vertreter der us-amerianischen Nationalgarde nennt sie im Dokumentarfilm „Wardogs“ sogar die Beste der Welt. Aber der BOPE hat nur wenige Männer, und die rekrutiert er aus den Reihen der Militärpolizei. Bis Ende Juli dieses Jahres wurden aus der brasilianischen Militärpolizei 161 Männer ausgeschlossen, weil sie sich in kriminelle Machenschaften verwickelt hatten. Beinahe täglich wird in Rio ein Militärpolizist festgenommen – 334 waren es im letzten Jahr. Anfang dieser Woche wurden im Bundesstaat Rio aufgrund von abgehörten Telefonaten 56 Militärpolizisten festgenommen. Alle aus dem gleichen Batallion – das heißt, jeder zehnte dieses Batallions ist betroffen und wird von der Militärpolizei ausgeschlossen. Die Gründe: Bandenbildung, Korruption und Verbindungen zum Drogenhandel. Das ist leider keine Fiktion.

Samstag, 15. September 2007

Ein Hoch auf die Heuchelei

Nicht nur in den großen Städten lernen Kinder Schimpfwörter. Und ins Teenie-Alter müssen sie dafür auch nicht erst kommen. Das weiß jeder. Nur die Eltern der kleinen Schätzchen anscheinend nicht.

Es war einmal in einer kleinen Stadt von 35.000 Einwohnern im Osten des nordbrasilianischen Staates Pará. In einer Grundschule dieser kleinen Stadt riefen die Kinder am liebsten: „Caralho!“ (Schwanz) und „Busseta!“ (Möse) – und was es sonst noch an vulgären Bezeichnungen für die primären Geschlechtsorgane gibt. So lange und so häufig taten die Elfjährigen das, bis es ihrer Lehrerin – bekennendes Mitglied einer protestantischen Kirchengemeinde - zu bunt wurde.

„Ihr wißt ja nicht einmal, was ihr da redet“, schimpfte sie. Und zog die logischen Konsequenzen: Sie schrieb all die schlimmen Wörter, die ihre Schüler so gerne in den Mund nahmen, an die Tafel. Forderte sie auf, die Liste ordentlich abzuschreiben. Und im Wörterbuch nach dem Sinn dieser Wörter zu suchen. Wer weiß, dass sein Lieblingsschimpfwort eigentlich „Schwanz“ bedeutet, hat eine größere Chance, darauf zu kommen, dass so ein Schwanz gar nichts Schlechtes ist – und ergo auch eine größere Chance, sich ein anderes Lieblingsschimpfwort zu suchen. Wäre immerhin einen Versuch wert, könnte man meinen.

Die Kinder nahmen also ihre Liste als Hausaufgabe mit. Und plötzlich waren ihnen die Wörter peinlich, wie sie so Schwarz auf Weiß im Schulheft geschrieben standen. So peinlich, dass der Vater eines der Elfjährigen, nachdem er in dessen Heft gesehen hatte, was der peinliche Unterrichtsinhalt war, haarscharf darauf schloß, dass der unschuldige Kleine solchen Schmutz bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal gehört haben müsse. Diese Frau „bringt den Kindern Unrechtes bei und darf nicht straflos davon kommen!“, erregte sich der Soldat und Familienvater – und erstattete Strafanzeige bei der örtlichen Polizei. Seinem Beispiel folgten zwei weitere Eltern. Sie berufen sich auf Artikel 234 und 140 des Strafgesetzbuches, in denen es um Verbreitung öbszoner Ausdrücke und Objekte sowie um Beleidigung geht – Vergehen, die in Brasilien mit Geld- und sogar Gefängnisstrafen geahndet werden können.

Die beanstandeten Worte sind damit nicht aus der Welt zu schaffen. Trotzdem verschweigen sogar die Presseberichte über den Vorfall die Wörter des Anstoßes ängstlich. Wacht auf, Leute! Begriffe wie „Möse“ und „Schwanz“ begegnen auch unter Elfjährigen ständig im Alltag: im TV, im Shoppingcenter oder in Songtexten! Die nächste Lehrerin wird sich bei ähnlicher Gelegenheit wahrscheinlich die Ohren zu halten. Auch wenn ihre strenggläubige Kollegin laut Behördenbeschluß immerhin weiter unterrichten darf. Ein Hoch auf die Heuchelei!

Mittwoch, 12. September 2007

Immer nur die Mama

Anhänglicher sind die brasilianischen Schüler bestimmt nicht. Aber vielleicht ihre Eltern ängstlicher. Oder es fällt ihnen einfach keine bessere Ausrede ein. Jedenfalls sagen die Schüler hier meistens: „Das ist meine Mama!“ – wenn ihr Telefon mitten in der Mathestunde klingelt und die Lehrerin einen strengen Blick riskiert. Manchmal sagen sie auch gar nichts, weil sie damit beschäftigt sind, SMS zu schreiben. Oder sie filmen den Lehrer beim Unterrichten und veröffentlichen den Clip dann zur Belustigung im Internet. Echte Kommunikationsfreaks diese Schüler. „Es gibt dringende Gespräche, die man auf jeden Fall annehmen muß, auch im Unterricht“, bestätigt der 16jährige William - und meint damit vor allem Anrufe seiner Freundin. Computer sind in brasilianischen Schulen immer noch keine Selbstverständlichkeit - Handys hingegen gelten als unverzichtbares Alltags-Accessoire.

Und das soll weg. Raus aus den Klassen. Wenigstens während der Unterrichtszeit. Was den Lehrern nicht gelingt, soll jetzt ein Gesetz schaffen: Ein Entwurf sieht Handyverbot in den öffentlichen und privaten Schulen von Sao Paulo vor - im reichsten Bundesstaates Brasiliens ist das Problem vermutlich besonders akut. Sogar vereinzelte Schüler finden es nicht mehr so toll, wenn gleich mehrere Handys im Unterricht klingeln und vom Stoff nichts mehr mit zu bekommen ist. Die Abgeordnetenkammer hat dem Handyverbot schon zugestimmt – es fehlt nur noch das Ok des Gouverneurs José Serra.

Derweil verursacht das Thema reichlich Polemik. Ein Konzentrationshindernis sehen die Autoritäten. Kontaktsperre fürchten Eltern, die aus Sicherheitsgründen ständig mit ihrem Nachwuchs sprechen können wollen. Psychologieprofessor Yves de La Taille von der Universität Sao Paulo USP ruft: Sittenverfall! Lächerlich, dass man etwas per Gesetz durchsetzen wolle, was eine moralische Offensichtlichkeit sei. Die Sitten sind wohl noch weiter verfallen, als der Professor annimmt: Manche Schüler spielen offenbar jetzt schon mit dem Gedanken, gegen das künftige Gesetz zu verstoßen. „Wie hoch sind denn die Strafen“, fragen sie, und „kommt man dann ins Gefängnis, wenn man trotzdem sein Handy dabei hat?“.

Das klingt ein bißchen so, als sei deren Unrechtsbewußtsein tatsächlich eher schwach entwickelt – frei nach dem Beispiel straffrei betrügender Politiker. Denn die Handys in der Klasse bringen natürlich auch handfeste Vorteile. Beim Spicken etwa. Statt sich Wesentliches auf Handrücken, Zettel oder Hemdsärmel zu schrieben, haben in den Handy-Hoch-Zeiten viele die Notizfunktion des Geräts genutzt. Und ein paar ganz Schlaue haben die Prüfungsaufgaben einfach abfotografiert und an Freunde gesendet. Die konnten dann blitzschnell zuhause die Lösungen recherchieren und per SMS in den Prüfungsraum zurückschicken.

So gesehen muß man fast hoffen, dass es mit der Vernetzung der brasilianischen Schulen noch eine Weile dauert. Denn Spicken läßt sich auch per Mail. Und im Zweifelsfall einfach behaupten: „Ist nur von meiner Mama!“

Freitag, 7. September 2007

Endlich Sommer

Heute fahren alle an den Strand. Denn heute fängt der Sommer an. Anderswo in Brasilien mag das erst in ein paar Monaten passieren, aber hier im Nordosten ist heute „Abertura de verão“ – Sommer-Eröffnung. Wer wann und warum damit angefangen hat, den Sommer vorzuverlegen, weiß ich nicht. Vielleicht ist das so eine ähnliche Marketingmasche wie der antizyklische Karneval, der mancherorts im Oktober zusätzlich zum eigentlichen Termin ausgerufen wird. Jedenfalls kommt die vorverlegte Sommereröffnung hier allseits bestens an. Schliesslich haben alle Strandbarbesitzer und Schmuckhersteller und Buggyfahrer lange, karge, verregnete Wintermonate auf diesen Tag und seine Einnahmen hingewartet. Und auch die strandfern vor sich hin ackernden Binnenland-Brasilianer wollen nur zu gerne die letzten Monate vergessen, in denen der Regen Strassen in Schlammfluten verwandelt hat und Strände in graue öde Landschaften: In Massen strömen sie in alle stadtnah gelegenen Orte am Meer.

Das Wetter hat auf die Kolonnen Sommereröffnungs-Reisender wenig bis keinen Einfluß. Zum Stichtag sind traditionell sämtlich Zugangsstrassen zu Strandorten verstopft, dabei geschehen reichlich Unfälle wegen Trunkenheit am Steuer und wird vermutlich mehr Alkohol konsumiert als in den nächsten Wochen zusammen. Besonders Schlaue reisen schon am Donnerstag an. Hilft aber nichts, weil die Idee nicht so richtig originell ist: Gestern nachmittag etwa hat der Bus von Recife vor lauter Staus statt der üblichen zwei Stunden locker dreieinhalb gebraucht. Ganz zum Schluß hat der freundliche Busfahrer trotzdem für eine kleinere Gruppe Wochenendreisender außerplanmäßig gehalten: Sie hatten ihren Wochenendvorrat an Rum- und Colaflaschen, Bohnen, Reis und Nudeln, Chips, Flips, Milchpulver und Haarkuren in ungefähr vier Dutzend Plastiktüten dabei und brauchten allein zehn Minuten zum Ausladen.

So vorausgedacht haben längst nicht alle; heute mittag hatten die anderen Kurztrip-Besucher den einzigen Supermarkt hier im Dorf beinahe leergekauft. Kein Saft mehr und kein gekühltes Bier, kein Trockenfleisch und kein Brot - was man halt so braucht für ein gemütliches Wochenende mit Freunden. Dafür sind die Strassen um so voller. Dutzende Urlauber in Bikinis oder Shorts laufen durchs Dorf - auf der Suche nach Getränkenachschub für ihre Terrassen, wo der Rest der Familie mit Freunden bei Musik zusammensitzt. Manche machen die Bierdosen gleich vor dem Getränkemarkt auf und improvisieren auf der Mauer des Süssigkeitenladens daneben eine Privatkneipe. Wildfremde setzen sich dazu und bald ist die Party im Gang. So viel los ist hier im Dorf vermutlich erst wieder an Karneval.

Natürlich ist heute Feiertag. An Arbeiten wäre auch gar nicht zu denken: Musikfetzen aus Bossa Nova, Samba, Rio Funk und Schmalzschinken mischen sich zu einem völlig neuen Musikstil, während dicke Schwaden Grillwolken verführerisch durch die Gassen ziehen. Und weil sie so froh sind, dass endlich Sommer ist, feiern viele Ferienhausmieter in Schichten – während eine Hälfte ausruht, singt und trinkt die andere weiter – nur die Stereoanlage macht durch. Manche verlassen ihre Terrasse das ganze Wochenende nicht. Bei der Sommereröffnung geht es nämlich gar nicht darum, wirklich den Strand und das Meer zu sehen. Es geht darum, hinterher sagen zu können: Wir sind am Wochenende an den Strand gefahren und haben mal wieder so richtig gefeiert. Endlich Sommer!

Sonntag, 2. September 2007

Die Brasilianer gibt es nicht

Die Brasilianer gibt es nicht. 188 Millionen Menschen heißen Brasilianer. Manche leben in wüstenähnlichen Gegenden, andere im Urwald, wieder andere am Strand. Und nicht mal die Strandbewohner sind sich unbedingt ähnlich. Die von Rio de Janeiro heißen Cariocas und sind ganz eindeutig anders als die Pernambucaner, unter denen ich sonst lebe. Die Pernambucaner sind so etwas wie die Bayern Brasiliens: Ganz gross im Granteln. Wenn ein Zugereister lange genug durchhält, kann er trotzdem mit dem einen oder anderen Pernambucaner Freundschaft schließen. Trotzdem bleibt jede Reise nach Rio ein Besuch in einer anderen Welt: Die Cariocas scheinen mit einem Extra-Gen für Hilfsbereitschaft, Kommunikationsfreude und Freundlichkeit geboren zu werden.

Und das nicht nur anderen Cariocas gegenüber. Der Busfahrer der Linie 384 von Leblon nach Laranjeiras etwa hält unaufgefordert genau an meiner Einfahrt, anstatt an der Bushaltestelle – als ich das zweite Mal mitfahre. An einem anderen Tag diskutiert ungefähr die Hälfte der Mitfahrer eifrig darüber, wo ich am besten aussteige, um ins Centro Cultural der Banco do Brasil zu gelangen –auch dabei werden nicht nur offizielle Haltestellen berücksichtigt. Als ich auf Recherche die Favela Cidade de Deus besuche, fährt mich ein Bewohner stundenlang auf seinem Moto-Taxi durch die Gegend, damit ich – die fremde Journalistin – auch einen richtigen Eindruck von seinem Viertel bekomme. Geld will er nicht dafür nehmen. Im Museumscafé wühlt sich der Café-Kellner geduldig durch mehrere Schränke – weil ich vielleicht meinen Schirm dort vergessen habe. Als er nicht fündig wird, entschuldigt er sich bei mir. So etwas ist mir in Pernambuco in sieben Jahren nicht passiert.

Letztens sah ich an einem netten kleinen Häuschen hier im Dorf ein Schild: Zu verkaufen. Die Nummer hatte ich mir schon länger notiert, aber angerufen habe ich erst gestern, Das heißt, ich habe Ricardo anrufen lassen, weil ich mich nicht gleich am Telefon durch meinen Akzent entlarven und damit die Preisliste für reiche Ausländer aufrufen wollte. Ricardo ist zwar Carioca, aber immerhin Brasilianer. Er ruft also die Nummer an, die auf dem „Zu-Verkaufen“-Schild steht. Es ergibt sich folgender Dialog:

Weibliche Stimme: Wer spricht?

Ricardo: Guten Abend, meine Name ist Ricardo, ich habe Ihre Nummer auf dem „Zu-Verkaufen“-Schild an Ihrem Haus gesehen, können Sie mir darüber Informationen geben?

Weibliche Stimme: Ach ja, das Haus. Das verkauft meine Mutter.

Entfernt sich. Im Hintergrund: Mama, da ruft jemand an wegen dem Haus. Schlurfen. Räuspern.
Zweite weibliche Stimme: Wer spricht?

Ricardo: Ich rufe wegen dem Haus an, das Sie verkaufen.

Zweite weibliche Stimme: Haus? Ach so. Nein. Ich habe das Schild vor zwei Wochen aufgehängt. Ich will nicht verkaufen.

Ricardo: Ach? Dann nehmen Sie das Schild am besten wieder ab.

Zweite weibliche Stimme: Aber ich würde vermieten. Wollen Sie das Haus nicht mieten?

Ricardo: Nein danke.

Zweite weibliche Stimme: Wo kommen Sie denn überhaupt her?

Ricardo: Ich wohne hier im Dorf, schon seit Jahren.

Zweite weibliche Stimme: Ja, hm. Ich verlange 45.000 für das Haus.

Ricardo: Haben Sie es sich anders überlegt? Verkaufen Sie doch?

Schweigen.
Ricardo: Wann sind Sie denn in der Gegend? Ich würde mir das Haus gerne ansehen.

Zweite weibliche Stimme: Am nächsten Wochenende. Freitag, Samstag und Sonntag bin ich im Haus.

Ricardo: Gut, ich rufe Sie dann wieder an.

Zweite weibliche Stimme: Aber Sie müssen schon am Freitag kommen.

Ricardo: Gut, ich melde mich. Einen schönen Abend noch.

Klick - die Leitung ist unterbrochen.

Noch Fragen?

Die Brasilianer gibt es nicht.
 
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