Sonntag, 21. Dezember 2008

Wunsch an die Leser

Wieder ein Jahr beinahe am Ende. Angeblich liegt das am fortgeschrittenen eigenen Alter, wenn die Jahre immer schneller verfliegen. Manchmal scheint es, als könne die steigende Geschwindigkeit auch an den Ereignissen liegen, die sich immer schneller wiederholenden oder gar potenzieren.

Um dabei nicht völlig den Überblick zu verlieren, neigt das menschliche Hirn dazu, um den Jahreswechsel abzurechnen, aufzurechnen, zusammenzurechnen. Und? Wie war das so in 2008?

Für Brasilien war es ein Jahr mit reichlich Superlativen. Der Präsident hat es geschafft, mitten in der Krise laut Umfragen 70 Prozent Zustimmung zu seiner Person und Politik zu erreichen. Seine Partei hat es geschafft, mehr Korruptionsskandale auszulösen, als alle anderen vor ihr. Die Richter des Obersten Gerichtshofs haben es zum ersten Mal in der Geschichte des Gerichtshofs geschafft, über einen Kollegen zu richten: wegen Korruptionsvorwürfen. Mit den Entdeckungen der riesigen Ölvorkommen unter dem Meer schien Brasilien ein paar optimistische Momente lang künftige Heimat von Latino-Ölscheichs – dann zerbrach der Traum an krass sinkenden Ölpreisen und dem voraussichtlich extrem komplizierten Abbau der schwarzen Reichtums. Tröstend winken die Tatsachen, dass die internationale Krise bislang gnädig mit dem größten Land des Kontinents verfahren ist – und dass Brasilien in der Runde der G20 ständig an Gewicht gewinnt.

Und für diesen Blog? Stand ein nicht ganz freiwilliger Umzug aus den Seiten von zeit.de nach blogspot.com auf dem Plan. Manche Leser sind offenbar mitgekommen. Wie viele, ist schwer zu beurteilen, denn das Bloggen ist im Grunde ein einsames Geschäft: Solange sich die Leser nicht zu Wort melden, habe ich keine Ahnung, wer sie sind, was sie denken, ob sie überhaupt noch da sind. Tatsache ist: Seit dem Umzug melden sie sich deutlich weniger zu Wort. Heißt das, es sind deutlich weniger geworden? Oder haben sie nur weniger zu sagen? Und wenn sie zu eher privat gefärbten Posts mehr Meinung zeigen, bedeutet das, die politischen Posts interessieren sie weniger? Oder sind die politisch Interessierten nur schreibfauler? Fragen über Fragen.

Zum Jahreswechsel gehören außérdem gute Vorsätze und fromme Wünsche. Ich wünsche mir für 2009 weniger Blogger-Einsamkeit.Statt dessen großzügige Kommentare: Es darf erzählt, verglichen, gemeckert, gelobt, ergänzt oder verlinkt werden!

Mein Vorsatz: Im Januar geht es weiter mit dem Blog. Bis dahin: reichlich gedeckte Gabentische, einen üppigen Weihnachtsschmaus und eine tolle Party!

Dienstag, 16. Dezember 2008

Schöne Grüße ins Herrenhaus


Hier auf dem Dorf ist manches noch wie in alten Zeiten. Grund und Boden etwa gehören den Großgrundbesitzern. Das ist eine einzige Familie, die mehr als hundert Hektar Kokoshaine, Mangowälder, Cashewpflanzungen und Wiesen ihr Eigen nennt. Der Familienbesitz umfasst mehr als die Hälfte des Dorfes, reicht auf der einen Seite bis fast ans Meer, auf der anderen bis an die Mangrovensümpfe am Flussufer und an der dritten bis weit in den Naturpark hinein.

So groß ist das Ganze, dass die Besitzer nicht immer den Überblick behalten und es schon einigen frechen Invasoren gelungen ist, heimlich Lehmhütten und sogar richtige Häuser aus Ziegelsteinen auf dem fremden Land zu errichten. Wenn solche Häuser erst mal eine ordentliche Weile stehen, können die Bewohner nur noch gegen Zahlung einer Entschädigung vertrieben werden. Auf der Naturpark-Seite, wo die Rechtslage ohnehin ungeklärt ist, lohnt sich das womöglich gar nicht.

Der alte Patriarch machte das früher anders: Er erlaubte seinen Arbeitern, ihre bescheidenen Behausungen auf einem ihnen zugewiesenen, möglichst wertlosen Stück Land zu errichten, dokumentierte die Rechtslage: das Haus gehörte den Arbeitern, das Land dem Patrao, und erhob jährlich eine Nutzungsgebühr. Regelungen aus längst vergangenen Zeiten.

Kürzlich lud mich meine Nachbarin Dona Bella für ein Schwätzchen auf ihre Terrasse ein. Wir wohnen oben auf dem Hügel, wo der Boden sich nicht sonderlich zum Pflanzen eignet, aber immer ein frischer Wind vom Meer weht und der Blick weit reicht. Dona Bella, eine drahtige Person von vielleicht siebzig Jahren, hat in ihr Haus reichlich investiert, damit es dem Prototyp des guten Geschmack nach Auffassung der Dorfbewohner entspricht: Terrasse und sämtliche Fenster sind mit kostspieligen Eisengittern versehen, die Fussböden sind weiß gekachelt, die Straßenfront ist sauber verputzt und weiß gekalkt. Auf den anderen Seiten zeigen sich rohe Ziegelwände, weil Besucher die im allgemeinen ja nicht zu sehen bekommen. Von der Terrasse aus hatte Dona Bella früher einen Ausblick übers ganze Land. Seit ein paar Wochen sieht sie statt dessen auf den Blechunterstand für das Auto ihres jüngsten Sohns. Das stört sie nicht: Ist auch ein Zeichen des noch frischen Wohlstands, den ihre insgesamt neun Kinder erwirtschaftet haben.

Früher war das anders. Da stand hier ein windschiefes Lehmhaus neben dem anderen. Im Winter regnete es manchmal dermaßen durch die Palmwedeldächer, dass mehrere Nachbarinnen im dichtesten Haus zusammen krochen. So erzählt Dona Bella. Sie sei mit so wunderbaren Nachbarinnen beschenkt, sagt sie, „wie Schwestern, die ich nicht gehabt habe“. Früher habe sie unten im fruchtbaren Land auch Pflanzungen gehabt, als der Patriarch noch lebte. Maniok und Tomaten, ein bisschen Zuckerrohr und Süßkartoffeln, hauptsächlich für den Eigenbedarf. Die Nachkommen des Alten wollten das dann nicht mehr. Aber das seien auch so feine Leute. Haben gar nichts gesagt, obwohl sie dieses Jahr ihre Nutzungsgebühr noch nicht bezahlt habe, weil sie doch so viele Krankenhauskosten hatte.

Nutzungsgebühr? Aber ja, die gibt es immer noch. Seit einem halben Jahrhundert zahlt Dona Bella und hat insgesamt längst mehr entrichtet, als ihre Parzelle ohne Grundbucheintrag überhaupt wert ist. Aber so denkt Dona Bella nicht. Sie sorgt sich, weil sie nach ihrer Herzoperation noch nicht wieder sicher genug auf den Beinen ist, um der Großgrundbesitzerin einen Besuch abzustatten. „Wenn du Dona Darcy mal siehst, richte ihr doch bitte meine Grüße aus und erkläre ihr, dass ich sie besuche, sobald ich kann“, bittet mich Dona Bella. Ein Gruß wie aus der Sklavenhütte ins Herrenhaus.

Dienstag, 9. Dezember 2008

Mogelpackung Mindestlohn


Mit der Zeit entpuppt sich mancherlei als Mogelpackung in diesem Land. Zum Beispiel das Gerücht, dass am Strand von Ipanema nur die gleichnamigen Girls mit den perfekt modellierten Körpern flanieren. Klar gibt es dort sensationelle Strandschönheiten - meist umringt von mindestens Hobbyfotografen. Manchmal handelt es sich auch um professionelle Models, die von Profifotografen in den Sand bestellt wurden, weil sie mal wieder das Klischee illustrieren sollen. Dazu brauchen sie Models, weil die normale Carioca durchaus einen Bauchansatz oder gar Hüftgold dabei hat, wenn sie sich in die Wellen stürzt. Echt wahr. Sagt nur keiner, und zeigt erst recht keiner auf Fotos. Damit nicht genug der Demontage: Es ist nicht nur manche Carioca nicht perfekt, es kann nicht einmal jeder Brasilianer Samba tanzen. Wen wundert es angesichts solcher Fakten, wenn reichlich Brasilianer weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn pro Monat verdienen?

Das statistische Bundesamt verzeichnet, dass „nur noch“ etwa jeder fünfte Brasilianer mit maximal einem halben Mindestlohn im Monat auskommen muss – im Nordosten sogar jeder dritte. Die Hälfte der Bevölkerung des Landes kann immerhin über zwischen einem halben und zwei Mindestlöhnen verfügen. Dieser salário mínimo liegt momentan bei 415 Reais, umgerechnet knapp 140 Euro. Wenn man bedenkt, dass eine Gasflasche zum Kochen zurzeit 35 Reais und ein Kilo Brot 6 Reais kostet, dann ist es erstaunlich, wie solche Geringverdiener überhaupt überleben. Aber das interessiert manch anderen wenig.

Zum Beispiel Nelsinho. Den Besitzer einer Zuckerrohrplantage hier im Nordosten habe ich über gemeinsame Bekannte vor einigen Jahren kennengelernt – damals mein erster Kontakt mit einem „Coronel“; wie die einfachen Leute bis heute die besser Gestellten nennen. Der Coronel trug einen imposanten Bierbauch zur Halbglatze und jovialem Lächeln und erzählte mir gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft sichtlich stolz, dass er seine neue Köchin für deutlich weniger als den Mindestlohn eingestellt habe: schließlich äße sie mittags meistens Reste und müsse also kaum Lebensmittel einkaufen. Ich war damals zu geschockt, um gleich geistesgegenwärtig zu fragen, ob sie mit den Resten auch ihre Kinder zu Hause ernähren sollte.

Später lernte ich Seu Antonio kennen, stolzer Empfänger eines kompletten Mindestlohns, der nur gelegentlich ein paar Wochen verspätet ausgezahlt wurde. Seu Antonio arbeitete auf einem ländlichen Anwesen von vielleicht zwei Dutzend Hektar Größe. Dort versorgte er 20 Milchkühe, ein Dutzend Rinder, sechs Pferde und diverses Geflügel. Molk morgens und abends mit der Hand, schnitt karrenweise Futtergras, da die Weiden mager waren, verabreichte Medikamente und raspelte Hufe, flickte Zäune und baute materialkostenfrei Unterstände aus selbst geschnittenen Pfosten und Kokospalmwedeln. Weil das reichlich Arbeit für einen einzigen Mann ist, half ihm sein zwölfjähriger Sohn in jeder Minute, die der Knirps nicht in der Schule verbrachte. Seu Antonios Frau sammelte die Früchte der Obstbäume, röstete Cashewkerne, fegte das Areal rund um die Gebäude und putzte das Herrenhaus, wenn die Familie des Besitzers sich angekündigt hatte. Manchmal kündigte sie sich nur an und kam dann doch nicht. Dann hatte Seu Antonios Frau umsonst geputzt. Streng genommen tat sie das ohnehin immer, denn Lohn bekam nur Seu Antonio. Gekündigt hat der alte Viehzüchter erst, als sein knausriger Chef ihm vorschreiben wollte, wie er die Rinder zu behandeln hätte.

Meine Freundin Patrícia arbeitet seit einem Jahr als Kassiererin in einem Supermarkt für einen Mindestlohn im Monat – obwohl sie wegen der größeren Verantwortung an der Kasse 759 Reais verdienen müsste – 80 Prozent mehr. Sie steht von morgens um halb acht bis abends um zehn im Laden, kassiert, putzt, füllt Regale auf. Eine Stunde Mittagspause, sechseinhalb Tage die Woche, ein Monat Ferien im Jahr. Leider hat sie mich dieses Jahr in den Ferien wieder nicht besucht, weil die Chefin ihr das Urlaubsgeld erst am Ende des Monats ausgezahlt hat und Patrícia deswegen ihre ganzen Ferien pleite zuhause verbracht hat. Kündigen? Denkt sie oft drüber nach. Aber dann sagt sie: „Wer weiß, ob ich danach etwas anderes finde“. Vorsichtshalber bewerben? Geht nicht, denn die potentiellen neuen Arbeitgeber rufen gerne beim Noch-Chef an, um sich dessen Urteil anzuhören. Und wer schon auf dem Absprung ist, hat dann manchmal schnell keinen Noch-Chef mehr.

Meine Erfahrungen ohne statistischen Wert: Die Leute können noch so schlecht behandelt werden, sie kündigen nicht. Nicht hier im Nordosten auf dem Land. Dabei sind die hier zitierten Fälle unendlich steigerbar, immerhin ist auch in Brasilien Krise. Kürzlich etwa erzählte mir ein Angestellter der Großgrundbesitzerfamilie hier im Dorf, dass er neuerdings nicht mehr angestellt sei, weil die Erbengemeinschaft, die den Besitz jetzt verwaltet, sparen wolle. Seitdem kommt er immer noch sieben Tage die Woche von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends zur Arbeit. Nur verdient er jetzt nicht mehr einen Mindestlohn inklusive Sozialabgaben, sondern nur noch 80 Reais pro Woche. Um auszurechnen, wie viel das im Monat macht, fehlt ihm die Schulbildung. Es sind beschämende 320 Reais, kaum mehr als 100 Euro. Was nutzt es ihm da, wenn der gesetzliche Satz demnächst wieder angehoben wird? Für ihn ist der salário mínimo nur eine Mindestlohn-Mogelpackung.

Dienstag, 2. Dezember 2008

Der Leibhaftige hilft nicht


Xuxa ist es in den nahezu dreißig Jahren ihrer Karriere gewohnt, im Rampenlicht zu stehen, und normalerweise genießt die inzwischen 45Jährige blonde Kindermoderatorin den Rummel. In letzter Zeit hätten ihr bessere Quoten bei ihrer Samstagsshow sogar gelegentlich gefehlt. Manche meckern schon, Xucas beste Zeiten seien vorbei.

Und dann kamen die Schlagzeilen - allerdings anders als erwartet. In einer Auflage von sensationellen drei Millionen, davon können die Medienmanager in der Krise nur träumen. Die „Folha Universal“ schafft solche Traumzahlen mit einem schäbig gedruckten Printprodukt, das erst kürzlich auch außerhalb der Igreja Universal do Reino de Deus bekannt wurde. Auf dem Titel der Ausgabe Nummer 855 der Folha Universal, die eine Woche im August unter Gläubigen kursierte, starrt Brasiliens Ikone, die 45jährige Xuxa, leicht irr ins Leere. Überschrieben ist das Bild mit „Pakt mit dem Dämon“, darunter heißt es: Mein König „Exux“ – in Anlehnung an die afro-brasilianische Religion des Candomblé, in der „Exu“ nicht nur Vermittler zwischen Menschen- und Geisterwelt ist, sondern von manchen auch mit dem Teufel gleich gesetzt wird.

Erfolg ruft Neider auf den Plan, das ist in Brasilien nicht anders. Und Xuxa ist vielleicht die erfolgreichste Brasilianerin überhaupt: Bereits im Jahr 2002 wurde ihr privates Vermögen mit 250 Millionen Reais angegeben, damals verdiente sie bei TV-Globo jeden Monat 2,2 weitere Millionen. In ihrer bisherigen Karriere hat die Sängerin insgesamt beinahe 900 Lieder aufgenommen, rund 30 Millionen Platten, CDs etc. verkauft und steht damit auf dem zweiten, fünften, sechsten und achten Platz der zehn Top-Seller-Alben Brasiliens.

In der Folha Universal stand also im August, Xuxa habe einen Pakt mit dem Leibhaftigen geschlossen. Für 100 Millionen Dollar habe sie dem Teufel ihre Seele verkauft. Die TV-Kinder-Tante Brasiliens spende Blut für den Satan, wer ihr Lied „Hündchen Xuxo“ rückwarts abspiele, höre Teufelsanrufungen, und die Xuxa-Puppe terrorisiere Kinder.

Irgendwie ist Missionar Josué spät dran mit seinen Leibhaftigen-Vorwürfen. Bereits als Xuxa in den 1980ern ihren Aufstieg in den Himmel der Kinder begann, regnete es solche gehässigen Kommentare. Und weil ihren seichten Liedtexten nicht viel anzudichten war, hieß es damals: spiele man das Stück „a vida é doce, doce, doce“ (das Leben ist süß, süß, süß) rückwärts ab, sei: sangue, sangue, sangue (Blut, Blut, Blut) zu hören. Entweder hat Josué also abgeschrieben, oder selbst erfunden. Dass die Xuxa-Puppen nachts Kinder erdrosseln, haben wir schon vor Jahren gehört, und außerdem hat Xuxa den Höhepunkt ihrer Karriere, egal ob mit oder ohne Dämonenhilfe, längst überschritten.

Paulo Coelho, Ozzy Osborne, Alice Cooper und die Rolling Stones sind übrigens laut dem Kirchenmann ebenfalls dem Dämon verfallen. Geklagt hat bislang nur Xuxa. Vielleicht, weil sie damit bis zu drei Millionen Reais Schmerzensgeld verdienen kann. Offiziell sagt sie: Weil sie „alle Religionen respektiert, Liebe und Glauben für Gott empfindet und ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet hat, Gutes zu tun, wie etwa in der nach ihr benannten Stiftung“. Fast könnte man meinen, Xuxa sei wirklich besorgt.

Grund hätte sie dafür eher einen anderen: Neuerdings macht ihr ein sechsjähriger Lockenkopf namens Maisa heftige Quoten-Konkurrenz. Der minderjährigen Samstags-Moderatorin wird vermutlich als nächster Teufelsanbetung unterstellt, denn frech ist die erfolgreiche Kleine auch noch.

Foto: Fototapete Xuxa von deviantart.com

Dienstag, 25. November 2008

Faule Parlamentarier schaffen Inseln des Wohlstands


Schuld ist die Faulheit der Parlamentarier. Natürlich gibt es kleine Dörfer, in einem so großen und so unregelmäßig besiedelten Land wie Brasilien. Santa Cruz in Minas Gerais ist mit seinen drei Quadratkilometern Fläche kleiner als das Universitätsgelände der USP in Sao Paulo. Und Borá in Sao Paulo hat weniger als 800 Einwohner. Beides unabhängige Gemeinden mit eigenem Bürgermeister, Gemeinderat und allem, was dazu gehört. Das Problem liegt woanders. Im Wachstum. Denn das Zwergenwachstum gerät allmählich außer Kontrolle: Gab es 1988 in ganz Brasilien kaum mehr als 4000 Gemeinden, waren es 2000 schon mehr als 5500. Die meisten der neuen haben weniger als 10.000 Einwohner. Weitere 800 Anträge für neue Mini-Gemeinden liegen bereits in den Schubladen.

Vor dem Gesetz sind diese Zwerge in einer Hinsicht gleich gestellt. Egal ob 800 oder 10.000 Einwohner, es fließt die gleiche Mindestsumme Unterstützung in ihre Gemeindekasse: stolze 3,3 Millionen Reais im Jahr. Umgerechnet sind das gut eine Million Euro, die der Bund aus dem FPM - Fundo de Participação dos Municípios schöpft. Den FPM füllen Teile der Einkommenssteuer und einer Steuer auf Industrieprodukte. Je mehr Gemeinden, desto mehr Mindestsummen, ganz einfach. Also, dachten sich ein paar Schlaue Politiker: Schluss mit dem Eingemeinden, im Gegenteil - aus eins mach zwei. Möglich wurde das durch ein vor zwölf Jahren erlassenes Gesetz über die Gründung neuer Gemeinden, das durch konkrete Vorgaben ergänzt werden sollte, die vom Parlament zu verabschieden gewesen wären. Wären, denn seit 1996 sind solche konkreten Vorgaben nicht verabschiedet worden. Statt dessen wurde fröhlich ausgemeindet.

Zum Beispiel im Fall Coqueiro Baixo, im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul. Coqueiro Baixo hat nur 4700 Einwohner und war eigentlich Ortsteil von Nova Bréscia. 1996 wurde der Ortsteil zur eigenen Gemeinde erklärt und damit Empfänger von eigenen drei Millionen. Ebenso die nahe gelegene Siedlung Forquetinha – vormals Teil der Gemeinde Lajeados mit immerhin 70.000 Einwohnern. Seit 2001 ist Forquetinha mit seinen 2100 Einwohnern unabhängig – und Empfänger von drei Millionen im Jahr. Bürgermeister Lauri Gisch (siehe Foto) findet das wunderbar. Er wolle den ganzen Ort in eine Art Luxus-Wohnsiedlung verwandeln, sagte er kürzlich dem Nachrichtenmagazin Veja, „wir sind hier eine Insel des Wohlstands“. Was er nicht sagt: Die Hälfte des Wohlstands stammt aus Steuergeldern des Bundes.

Mit dem hemmungslosen Absahnen könnte demnächst Schluss sein. Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat den faulen Parlamentariern jetzt ein Ultimatum gesetzt: Bis Mai 2009 müssen sie endlich genaue Kriterien festlegen, nach denen neue Gemeinden entstehen dürfen. Ein Vorschlag sieht vor, je nach Region Mindesteinwohnerzahlen festzulegen: Im Norden und Mittleren Westen wären das 5000, im Nordosten 10.000 und im Süden und Südosten sogar 15.000 Einwohner. Damit wäre die Schlaraffenzeit sowohl in Coqueiro Baixo als auch in Forquetinha vorbei.

Falls die Parlamentarier in die Pötte kommen. Richtig sicher scheint der Oberste Gerichtshof darauf nicht zu zählen. Deswegen hat er für den Notfall vor gesorgt: Bleiben die Parrlamentarier trotz des Ultimatums bis Mai tatenlos, sieht der Supremo vor, einfach alle seit 1996 entstandenen Gemeinden wieder von der Landkarte zu radieren. Das trifft zwar auch finanziell vollkommen autarke neue Gemeinden wie Mesquita in Rio de Janeiro, dessen 190.000 Einwohner die Gemeindekasse ganz alleine füllen. Aber vor allem die Schmarotzer auf ihren Inseln des Wohlstands.

Foto: Liane Neves, entnommen aus Veja

Freitag, 21. November 2008

Der schöne Fabio und die Droge


Fabio Assuncao ist hier in Brasilien so etwas wie eine Mischung aus Til Schwaiger und Moritz Bleibtreu. Groß, blond und mit leuchtend blauen Augen, ist er das Mensch gewordene tropische Schönheitsideal für Männer. Ich habe den Super-Star vor Jahren einmal getroffen, als er bei der brasilianischen Variante von Oberammergau den Jesus gab: Er war nett und zugänglich und posierte bereitwillig mit der Pressedame, die mich begleitete und angesichts dieses Traummannes den eigenen – ebenfalls anwesenden - sofort und vollständig vergaß. Soviel zu seiner Wirkung. Damals. Als ich Fabio das letzte Mal sah, trat er in einer der Telenovelas als Held auf – immer noch groß und blond und blauäugig, aber seltsam abgemagert, müde und mit tiefen Schatten unter den Augen. „Der ist aber schnell alt geworden“, dachte ich mir. Jetzt weiß ich es – ebenso wie das restliche Brasilien - besser: Der schöne Fabio ist dem Kokain verfallen.

Die ersten haben das spätestens im Januar dieses Jahres vermutet, als der Schauspieler in Gesellschaft eines bekannten Dealers in Rio erwischt und deswegen zur Aussage gebeten wurde. Familienmitglieder sagten damals aus, Fabio nehme Kokain und sei deswegen in Behandlung. Die soll er abgebrochen haben. Und jetzt liegt am Kiosk eines der großen Nachrichtenmagazine mit der Schlagzeile: „Der Kampf ums Leben“ - ließe sich auch als "Kampf für das Leben" übersetzen. Natürlich geht es um die Droge.

Ziemlich reißerisch. Trotzdem war ich beeindruckt, denn wann spricht schon mal einer der Showstars über seine Suchtprobleme. Bis vor nicht allzu langer Zeit umgab gerade Kokain ja ein Ruf der Droge der Künstler und Intellektuellen, die den Verstand und die Sinne schärfe. Von Abhängigkeit und Verfall war eher selten die Rede. In seiner spektakulären Kokain-Beichte vermarktete Autor Stuckrad-Barre auch die schlimmsten Stunden noch irgendwie medienwirksam. Hierzulande wurde vor ein paar Jahren nach dem Tod der Sängerin Cassia Eller ebenso von Drogen gemunkelt wie schon einst bei Elis Regina. All diese Berichte waren – vergleichbar mit den Bildern einer erschreckend abgemagerten Amy Winehouse - meist purer Sensationalismus, und hatten mit einer Auseinandersetzung mit Drogen im Showgeschäft nichts zu tun. Von Veja konnte man eventuell mehr erwarten.

Pustekuchen. Das Magazin, das sich selbst gerne als Aufklärer, Wärter der Demokratie und überhaupt sehr seriös darstellt, macht keine Ausnahme. Ja, der Mann ist kokainabhängig. Aber ob, wie und wo er dagegen kämpft, erfahren wir gar nicht. Statt dessen eine Reihe seiner Symptome: Dass er Mühe hatte, Text zu lernen, dass er ständig am Set einschlief wegen der Beruhigungsmittel, die er gegen die Koksüberwachheit nahm. Dass er einmal zusammen gebrochen ist, und man ihm schon seit einiger Zeit beim Abnehmen beinahe zusehen konnte. Solange er trotzdem halbwegs funktioniert hat, durfte er weiter arbeiten. Nun ist vorläufig Schluss: Seine Hauptrolle in der Sechs-Uhr-Novela verschwindet flugs aus dem Drehbuch, und der Darsteller ist auf unbestimmt Zeit frei gestellt, um sich behandeln zu lassen. „Wenn er den Kampf gewinnt, könnte das Zeichen setzen“, behauptet der Autor der Veja-Geschichte.

Ob er solche Zeichen überhaupt setzen will, hat den Star anscheinend keiner gefragt. In seiner Presserklärung zum Ausstieg auf Zeit ist weder von Sucht noch von Kokain die Rede. "Gesundheitliche Gründe" gibt er diffus an. Zur Art, Dauer und sonstigen Details der Behandlung: keine Auskünfte. Und weil der Mann beliebt ist, auch bei den Kollegen, will von denen kaum einer was zum Thema sagen. Vielleicht, um ihn zu schützen. Vielleicht, um sich selbst zu schützen, denn wer weiß, ob sich der eine oder die andere nicht regelmäßig mit dem schönen Fabio zum Teco-Teco getroffen hat - wie die Leute es hier nennen, wenn sich Menschen gesellig ein paar Lines reinziehen. Bekanntlich koksen die Wenigsten allein und im Showbiz-Milieu koksen bekanntlich nicht wenige. Aber darüber redet keiner so gerne.

Nicht mal als Inhalt für eine Novela – Brasiliens wichtigste Informations- und Erziehungsplattform - hat Drogensucht bislang eine Chance gehabt: Zu viel Angst haben die Quotenhörigen vor einer Ablehnung des Themas durch das Publikums. Lesbische Liebe, Prostitution, Aids, häusliche Gewalt – alles haben die Zuschauer in Novelas schon gesehen, diskutiert und schließlich geschluckt. Drogen traut ihnen keiner zu. Das bemerkt der Veja-Autor kritisch. Aber seinem eigenen Publikum traut er die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema offensichtlich ebenso wenig zu.

Der schöne Fabio hat seinem Outing im Nachrichten-Magazin bislang nicht widersprochen. Wahrscheinlich hat er Besseres zu tun. Ich hoffe, dass er seinen heimlichen Kampf tatsächlich gewinnt. Und danach Zeichen setzt: Vor allem für die Medien.

Foto: PR

Montag, 17. November 2008

Mama, Sie können mich mal

Letztens bin ich beim Capoeira-Training richtig erschrocken. Hatte der Typ da drüben wirklich mich gemeint? „Ele chamou a senhora para a roda!“, hatte er gesagt; der Lehrer habe mich zum Spielen in die Runde gebeten. Er hatte tatsächlich zu mir gesagt: „a senhora“. Dabei denke ich immer an „die (werte) Dame“, und so alt fühle ich mich nicht mal nach dem Training. Deutscher Denkfehler: weil „a senhora“ eigentlich nur so viel heißt, wie das höflich-respektvolle deutsche „Sie“. Oder?

So richtig sicher bin ich mir über die Bedeutung dieser brasilianischen „Sie“-Formel auch nach mehr als acht Jahren nicht. In meinem ersten Lehrbuch Portugiesisch war „o senhor“ der Polizist und basta. Also habe ich diese Form zunächst aus Faulheit gar nicht gelernt – man kann ja auch andere Berufsgruppen nach dem Weg fragen. Die ersten Jahre kam ich mit meinen dem deutschen „Du“ entsprechenden Varianten „tu“ und „voce“ prima durch, selbst bei Interviews guckte niemand komisch.

Als ich schließlich zur Überzeugung gelangt war, die Brasilianer seien eben das coolere Volk, und bei gelegentlichen Deutschland-Besuchen schon mal versehentlich die Supermarkt-Kassiererin duzte, kam der hinterhältige Rückschlag: Meine beste brasilianische Freundin siezte ihre Mutter. Nicht ständig. Nicht einmal nach einem durchschaubaren Muster, etwa in ernten Situationen. Nein, sie nannte ihre Erzeugerin – im übrigen zweifellos eine Respektperson! – anscheinend nach dem Zufallsprinzip mal „tu“, mal „voce“, mal „ a senhora“. Manchmal auch alles in einem einzigen Satz.

Thomas Strobel hat 2007 über die Höflichkeitsformen im Italienischen und Portugiesischen eine Diplomarbeit geschrieben. Dort heißt es: „Voce wird unter annähernd gesellschaftlich und altersmäßig Gleichgestellten verwendet. Gegenüber höhergestellten sowie älteren Personen ist diese Anrede ausgeschlossen.“ Im bis heute durch koloniale Strukturen geprägten Brasilien bedeutet das: Die jüngere Chefin wird ihren Chauffeur/ihr Hausmädchen/andere Dienstboten immer duzen – auch wenn diese noch so alt sein mögen. „A senhora/o senhor“ wird laut Strobel verwendet, wenn „eine deutliche Distanz zwischen den Gesprächspartnern liegt und der Sprecher ein gewisses Maß an Höflichkeit bzw. Achtung ausdrücken will.“

Liegt also zwischen meiner Freundin und ihrer Mutter eine deutliche Distanz? Und warum muss ich ihrer Mutter - deutlich älter als ich – nicht die gleiche Achtung erweisen wie sie?

Längst benutze natürlich auch ich sämtliche Höflichkeitsformen - nach meiner privaten und womöglich empörend falschen Höflichkeitshierarchie: „Tu“ verwende ich äußerst selten bei guten Freunden, denn es ist hier im Nordosten eher unüblich. „Voce“ geht für fast alle. Außer Polizisten, Interviewpartner, Methusalems, Beamte der Visabehörde – und meine beste Freundin, wenn sie mich ärgert. Dann nenne ich sie „a senhora“ – um die momentane deutliche Distanz zwischen uns zu betonen.

Nachdem ich erschöpft aus der Roda komme, frage ich den Mann, der zwar jünger ist als ich, aber der eindeutig bessere Capoeirista und damit zum einen deutlich distanziert und zum anderen fast eine Respektperson, wie er das gemeint hat, mit dem „a senhora“. „Ach“, sagt er, „ich arbeite in einem Hotel. Und mein Chef dort findet, ich könne die Gäste nicht einfach alle duzen, das kommt nicht gut an. Also habe ich mir angewöhnt, grundsätzlich alle Leute zu siezen - außer meinen engen Freunden.“ Ich bin also in bester Gesellschaft - offensichtlich wissen auch die Brasilianer nicht immer so genau, was sich bei ihnen sprachlich gehört.

Sogar meinem Nachbarssohn, ständig unter der Knute seiner strengen Adoptivmutter, die ihm gerne auch mal einen mit dem Gürtel überzieht, ist letztens ein Ausrutscher passiert. „Wissen Sie was, Mama“, hat er gebrüllt, „Sie können mich mal!“.

Donnerstag, 13. November 2008

Eine Alliierte gegen den brüllenden Pastor


Jeder dritte Brasilianer hat ein Hörproblem. Und jeder dritte dieser Fehlhörigen hat sein Problem, weil er zu viel Lärm ausgesetzt war. Wundert mich nicht. Die Mehrheit der Brasilianer kennt das Wort Lärmbelästigung nicht einmal. Oder wie lässt es sich sonst erklären, dass Werbung hier vor allem mit Sound-Systems in Volkes Ohren gedröhnt wird? So ein brasilianisches Sound-System kann ein Lkw, ein Pick-Up, ein Pkw, ein Moped oder auch nur ein Fahrrad mit aufmontierten Lautsprechern sein – manche durchaus hübsch anzusehen, aber alle durchdringend.

Angesichts dieses Brauchs scheint es nur logisch, dass auch die Pastoren sich elektronischer Verstärkung bedienen, wenn sie das Wort Gottes predigen. Und das tun sie. Alle. Aus dem nächstgelegenen Gotteshaus schallen mehrmals wöchentlich wütende Tiraden in mein ansonsten eher ruhig gelegenes Heim. Das Schimpfen scheint den Gläubigen zu gefallen, denn je weiter die Veranstaltung fort geschritten, desto mehr lassen sich zu inbrünstigem Stöhnen hinreißen, das gelegentlich nahezu orgiastisch klingt. Ein anderes Gläubigengrüppchen versammelt sich jeden Freitagabend auf dem Bürgersteig vor dem Papierwarenladen. Natürlich mit einer Art Megafon und Verstärker. Dort singen sie dann unter Nichtachtung sämtlicher musikalischer Grundregeln ihre Lieder und brüllen ihre Predigten. Hier im Dorf begrüßen sich die Leute mit „Sei im Frieden des Herrn“ und stimmen einander zu, indem sie „Amen“ sagen. Kurz: Die Sektenmitglieder sind in der Überzahl.

Das scheint ihnen nicht zu reichen. Am vergangenen Wochenende starteten sie eine Großattacke auf die letzten nicht-missionierten Schäfchen. Donnerstag kurvte ganztägig ein Sound-System durch die Handvoll Straßen und kündete von dem kommenden „Event des Glaubens“. Um 19 Uhr war es dann soweit. Für alle, die sich dafür interessierten und für alle anderen auch. Der Pastor hatte das Fußballfeld gemietet, eine Großleinwand aufgestellt und das Sound-System war auch im Einsatz. Jetzt beschallte es das gesamte Dorf in einer Lautstärke, die in jeder normalen Disco übertrieben wirken würde. Als bekehrte Mitglieder der Sekten-Gemeinde in klagendem Ton von ihrer Umkehr und der Rettung aus dem Sünderleben berichteten, drehte der Pastor den Lautstärkeregler bis zum Anschlag. Bei mir in der Küche wackelten die Teller im Regal. Zum Glück ist donnerstags Capoeira-Training, und ich konnte den Missionseifer hinter mir lassen.

Am Freitag kam ich gerade am Fußballplatz vorbei, als die Techniker und der Hirte sich mit offensiven Soundchecks offensichtlich darauf vorbereiteten, abends noch einen drauf zu legen. Vorsichtig näherte ich mich den Männern, begrüßte den Pastor und erklärte ihm meine missliche Lage: Obwohl ich gute 200 Meter Luftlinie vom Event entfernt wohne, kann ich während seiner Darbietungen nicht einmal mein eigenes Telefon läuten hören. Ob er eventuell die Güte besäße, abends ein kleines wenig leiser zu drehen? Die Antwort des Gottesmannes war klar und kategorisch: ER könne überhaupt niemanden stören, weil Gottes Wort nie störe. Und er habe extra ein besonders wattstarkes Sound System gemietet, um besonders aufdrehen zu können. Kurz: ER werde seine Arbeit machen, und wenn mir das nicht passe, könne ich ja zur Polizei gehen. Ich bedankte mich für sein Verständnis und verabschiedete mich mit einem bei Sektierern beliebten Spruch: „Que Deus lhe page em dobro“ (auf dass Gott dir doppelt zurückzahle, was du mir heute gegeben hast).

Später rief ich bei der Polizei an. „Falls ein Einsatzwagen frei ist, werden wir mal vor Ort nachsehen“, sagte die freundliche Callcenter-Mitarbeiterin Gisele zu mir. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen: Vor ein paar Wochen musste eine Freundin eine auf frischer Tat ertappte Diebin in ihrer Strandkneipe laufen lassen, weil kein Einsatzwagen frei war. Würde ich jetzt der Kriminalität Vorschub leisten wegen meiner empfindlichen Ohren? Das schlechte Gewissen hätte ich mir sparen können. Es kam kein Einsatzwagen. Auch am dritten Abend nicht, an dem ich versuchte, mit Favela-Reggae bis zum Anschlag gegen die Bekehrungsbekenntnisse anzudröhnen.

Gestern sprach mich eine Dame auf der Straße an und fragte mich schüchtern, ob ich die Gottesdienste auf offener Straße auch so lästig fände. Dabei drehte sie sich mehrmals verstohlen um, als wolle sie sich vergewissern, dass auch niemand mithörte. Kurz und erleichternd tauschten wir unsere Meinung über den brüllenden Pastor aus. Da fiel mir ein: Im letzten Sommer hatten im Nachbarviertel eine Menge Kneipenwirte empfindliche Geldstrafen zahlen müssen, weil sie die Musik zu laut gedreht hatten. Dauernd waren Leute mit Dezibel-Messgeräten unterwegs gewesen. Die wären unsere Retter!

Am selben Abend wandte ich mich vorsichtig an einen Uniformierten der örtlichen Polizei, der nicht aussah, als sei er selbst ein Sektierer, aber man weiß ja nie. Er drückte mir einen Infozettel in die Hand, auf dem stand: Poluicao sonora – Lärmbelästigung. Dort war ausführlich erklärt, welchen Schaden übertriebener Lärm anrichten könne. Und ganz unten stand: Helfen Sie uns, melden Sie Lärmbelästigung. Es folgte eine Telefonnummer. Heute werde ich meiner Alliierten diese Nummer weiter geben. Soll er nur kommen, der Herr Pastor!

Montag, 10. November 2008

Eine Nachfolgerin für Bito, den berühmten Bock


Ernsthaft begleitete er jeden Trauerzug bis zum Friedhof. Fröhlich schritt er vor jedem Karnevalsumzug. Gemessen führte er militärische oder musikalische Prozessionen an. Gerne ließ er sich mit einem Schälchen Milch oder Keksen verwöhnen. Nachmittags hatte er eine feste Verabredung mit den Busfahreren der Stadt, die ihm Tüten voller Bonbons mitbrachten. So wurde der Ziegenbock bald zum berühmtesten Einwohner von Riachão do Dantas im Nordostbundesstaat Sergipe. Bito töten? „Das ging dann einfach nicht mehr“, erklärt sein Besitzer Joélio. Eigentlich hatte er den Ziegenbock gekauft, um ihn erst zu mästen und dann zu Buchada zu verarbeiten, dem typischen Gericht des brasilianischen Nordostens, bei dem im Ziegenmagen die Nieren, Leber, Zunge, Herz und Därme des Tieres gekocht werden.

Dann kam alles anders. Statt Gras zu fressen, wie andere Ziegen, schlürfte Bito elegant Milch und knabberte feinsten Mais aus der Futtermittelhandlung seines Besitzers. Mit Sprüngen und Kapriolen forderte er Passanten und Kunden zum Spiel auf und begleitete so manchen auf dem Heimweg. Als 1998 eine richterliche Verfügung freilaufende Tiere auf den Straßen von Riachão untersagte, trat Bito in den Hungerstreik, und die ganze Stadt trauerte. Bis die Richterin davon hörte und persönlich ausrichten ließ: Bode Bito sei frei zu lassen.

Trotzt seiner ständigen Schlemmereien erreichte der Ziegenbock mit den weißen Schlappohren das hohe Alter von 18 Jahren. Zuletzt konnte er sich nicht mehr aufrichten, und dann starb er. Das war im Jahr 2007 und es ließ seine ungezählten Freunde tief traurig zurück. „Bito ist tot, aber seine Geschichte lebt für immer“, sagte der Gemeinderatsabgeordnete José Edson de Almeida, und beantragte ein Denkmal für Bito. So wurde der berühmte Bito zum Kunstwerk – statt zu Buchada: Der Bürgermeister bestellte eine Beton-Skulptur für umgerechnet mehr als 1200 Euro.

Bita kostete nur einen Bruchteil dieses Preises, und zwar lebendig. Die Ziege lebt in einem 2000-Einwohner-Dorf ebenfalls in Sergipe und hätte beinahe das gleiche Schicksal erlitten, das auch Bito zugedacht gewesen war. Doch dann ging Dona Joana sammeln, weil sie das cremefarbene Tier zu schade für den Kochtopf fand. Mancher der Bewohner von Triunfo konnte nur 20 Cent geben, mancher 40 – viel hatte keiner. Aber irgendwann kamen die umgerechnet 40 Euro zusammen, die ihr Besitzer verlangte. Seitdem ist Bibita Kollektivbesitz von Triunfo, spaziert – ganz wie ihr Namensvetter - in aller Seelenruhe durch die Straßen, begleitet alle Prozessionen und legt sich bei Beerdigungen gerne mal trauernd neben den Sarg. Außerdem geht Bibita in jede Zirkusvorstellung vom Triunfo. Kaum beginnt die Vorstellung, trippelt sie selbstverständlich ins Zelt hinein, klettert auf eine der Sitzbänke ganz oben und guckt sich die Vorstellung an. Erst wenn die Clowns vorbei sind geht sie wieder.

Letztens hat einer versucht, Bibita zu kaufen. Der war extra aus Riachão do Dantas gekommen. Weil dort kein Bock mehr die Trauerzüge begleitet, die Statue keine Bonbons frisst und überhaupt der Bode Bito allen arg fehlt. Bibita wäre doch eine prima Nachfolgerin für Bito, fand der Mann. Aber keiner der vielen Besitzer von Bibita war an seinem Geld interessiert.

Foto: ohne Angaben, übernommen aus dem Blog Meu Papagaio

Freitag, 7. November 2008

Maria da Penha konnte Ananda nicht retten

Maria da Penha ist heute 62 Jahre alt und seit beinahe einem halben Jahrhundert querschnittsgelähmt. Eigentlich hatte ihr Ehemann sie umbringen wollen, aber der Schuss ging daneben. Das war 1983, und in einem zweiten Anlauf im gleichen Jahr versuchte der Universitätsprofessor, seine Gattin durch einen Stromschlag und Ertrinken zu töten. Maria überlebte auch diesen Mordversuch, zeigte ihren Mann an und wartete, was passieren würde. Acht Jahre später wurde er zu acht Jahren Haft verurteilt, weitere 11 Jahre später endlich eingesperrt. Zwei Jahre lang.

Als er schon zwei Jahre wieder in Freiheit lebte, wurde 2006 das Gesetz Nummer 11.340 verabschiedet. Es heißt „Maria da Penha“ und sieht strengere Strafen und Maßnahmen im Fall familiärer Gewalt vor. Präventivhaft für aggressive Ehemänner ist seitdem ebenso möglich wie der Hinauswurf des gewalttätigen Mannes aus dem ehelichen Heim und die Verhängung von Sicherheitsabstand. Bereits am ersten Tag, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, wurde ein Mann festgenommen, der seine Ex-Frau erwürgen wollte.

Brasilien liegt weit vorne in der Gewalt gegen Frauen. Und der Bundesstaat Pernambuco liegt ganz vorn innerhalb Brasiliens. Zwischen 1.1. und 30.9.2008 hat die Leiterin des Frauenforums Pernambuco 205 Mordfälle an Frauen gezählt: nahezu eine für jeden Tag. Vielleicht hat Maria da Penha deswegen hier in Recife im letzten Jahr einen Verdienstorden bekommen, weil sie vom Rollstuhl aus gegen Gewalt an Frauen kämpft. Besonders häufig vergreifen sich die hiesigen Männer an Frauen, von denen sie bereits getrennt sind. Nach dem Motto: Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie auch kein anderer haben.

Anfang September haben hier im Bundesstaat der Gouverneur und die Frauenministerin Brasiliens einen nationalen Pakt zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet, in dessen Rahmen umgerechnet mehr als eine Million Euro für Anti-Gewalt-Projekte in den Bundesstaat fließen sollen. Ende September gingen mit dem gleichen Ziel 100 Frauen im ländlichen Goiana auf die Straße. Am 5. November lud die Frauenzeitschrift Claudia Maria da Penha zum Forum der brasilianischen Frau nach Recife, weil „es hier eine Tradition gibt, häusliche Gewalt zu bekämpfen.“ Am 6. November rollte die Namensgeberin des Gesetzes zu einer Feierlichkeit in der Anwaltskammer in Recife: anlässlich des zweiten Geburtstags des Gesetzes soll eine Briefmarke mit ihrem Porträt gedruckt werden.

So richtig euphorisch konnte die Stimmung nicht werden auf der Feier. Denn am Vortag, dem 5. November, während die Chefredakteurin von Claudia den Einsatz der Pernambucanerinnen lobte, wurde sechzig Kilometer entfernt Ananda do Ò beerdigt. Die 19Jährige wurde am 4. November von ihrem Ex-Mann durch einen Kopfschuss getötet. Obwohl sie bereits zwei Monate vorher auf dem örtlichen Polizeirevier um dringenden Schutz gebeten hatte. Obwohl sie danach noch mehrmals die Polizei aufsuchte, zuletzt an ihrem Todestag.

Laut Gesetz hat der Richter 48 Stunden Zeit, um über Anträge auf Schutz bei häuslicher Gewalt zu entscheiden. Am 11. September leitete der Polizeikommissar Anandas Gesuch weiter. Am 21. Oktober hat der Richter laut Angasben des Gerichts entschieden: der Ex dürfe sich Ananda oder ihrer Familie nicht auf weniger als 200 Meter nähern oder auf andere Weise Kontakt zu ihr aufnehmen. Mitgeteilt hat der Richter das weder Ananda noch dem Mann.

Am 2. November tauchte der Ex bei Ananda auf, ohne zu wissen, dass ihn das ins Gefängnis hätte bringen können, wenn alles richtig gelaufen wäre. So aber gerieten die beiden an der Haustür in einen handgreiflichen Streit, bis der Ex schließlich verschwand, Stunden später bewaffnet wieder kam und seine Ex in den Kopf schoss. Ananda hatte am nächsten Tag mit den vorgeschriebenen drei Zeugen auf der Polizeiwache ihre Bedrohung beweisen wollen. Sie starb auf der Stelle. Als ihre Nachbarn die Schüsse hörten und begriffen, was geschehen war, wollten sie den Täter lynchen. Als er sich einschloss, steckten sie ersatzweise sein Auto in Brand. Zu Anandas Beerdigung kamen 300 Menschen.

Wir haben unsere Pflicht getan, sagt der Polizeikommissar. Wir auch, sagt das Gericht. Klingt beinahe so, als rechneten die Bürokraten damit, dass alle so geduldig warten können, wie Maria da Penha selbst. Ananda hat nicht so viel Zeit gehabt - Maria da Penha hat sie nicht retten können.

Fotos: Domingos Tadeu (oben) und Folha de Pernambuco (unten)

Montag, 3. November 2008

Der Präsident trägt wieder Falten


„Das erste Opfer der Finanzkrise war das Botox.“ So titelte die Zeitschrift Piaui in ihrer neuesten Ausgabe. Danach schrieb Marcos Sá Corréa weiter: „Die Krise der amerikanischen Hypotheken kam am 21. Oktober in Brasilien an – mit winzigen Wellen. Drei milimeterfeine Ondulationen, um genauer zu sein. Sie waren so flach, dass sie nicht mal bis in die Zeotungen schwappen würden – hätten sie nicht die Stirn des Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva in Runzeln gelegt.

Lula sprach in diesem Moment vor der “Sociedade Brasileira para o Progresso da Ciência” über die weltweite Krise. Er gab behutsame Erklärungen zum Finanz-Tsunami, erklärte den Zuhörern, er sähe sich womöglich gezwungen sich ins eigene Fleisch zu schneiden, falls die Welle die Zentralbank voll erwischt. Wie immer war er dabei von Reportern, Kameramännern und Fotografen umgeben, die die Szene registrierten.

Die Worte des Präsidenten waren vielleicht nichts Besonderes. Aber seine Stirn erschien eloquent, von Sorgenfalten beschwert, Falten der Art, die die Augenbrauen hochziehen, die die Haut in Falten legen und die Bedeutung jedes beliebigen Themas unterstreichen, selbst bei Kneipengesprächen. Allerdings sind sie nur unter normalen Leuten normal. Unter Politikern und Berühmtheiten werden sie immer seltener.“ (…)

Tatsächlich hatte Lula seine Sorglosigkeit jahrelang mit einer babyglatten Stirn illustriert. In Zeitungen stand vor drei Jahren undementiert zu lesen, dass die Präsidenten-Hautärztin das Nervengift Botox bei Hausbesuchen spritzte. Kommentare gab es dazu keine, wozu auch. Macht ja jeder. Hier in Brasilien sowieso, aber auch McCain und wie sie sonst alle heißen. Lula hatte sich rundherum an sein neues Leben gewöhnt, mit Präsidentenflieger, Maßanzügen, edlen Weinen und eben Botox. Sorgenfalten hätten auch nicht zu einem gepasst, der alles im Griff hat.

Und jetzt hat er das Nachlassen der Wirkung des Nervengifts genau kalkuliert, damit die Zeichen seiner Besorgnis auch im richtigen Moment auftauchen. Das kann nichts anderes bedeuten als: Jetzt ist die Krise da. Wir sollten uns auf das Schlimmste gefasst machen: Der Präsident trägt wieder Falten.

*Piaui, das sollte an dieser Stelle auch noch gesagt werden, ist eine freche und frische journalistische Glanzleistung, die sich in dieser Art in Deutschland leider kein Verlag traut: großformatig wie Lettre aber weniger abgehoben, lange Reportagen über bis zu 10 Seiten, Porträts, für die Reporter die Porträtierten tagelang begleiten, Illustrationen, Comics, Gedichte, Fiktion und das beste „Vermischte“, was ich je in einem Printmedium gesehen habe.


Foto: Sebastiao Moreira, agencia EFE 2008, aus Piaui No. 26, Nov. 2008

Freitag, 31. Oktober 2008

Vorsicht Suchtgefahr - Capoeira


„Capoeira kann süchtig machen.“ Sprach Mestre Nenel zu mir, Sohn des berühmten Mestre Bimba, der die Capoeira regional erfunden hat. Das war vor einigen Jahren während eines Telefoninterviews, vor dem ich nicht viel mehr wusste, als dass die Capoeira mit den Sklaven aus Angola gekommen sein soll und sich die Schwarzen damit fit hielten. Später habe ich die akrobatischen Spiele der durchtrainierten Capoeiristas von Salvador bewundert – und mich über die aggressive Art geärgert, mit der manche davon die Zuschauer um Geld angehen. Auf die Idee gekommen, es selbst auszuprobieren, bin ich erst viele Jahre später. Im vergangenen Sommer. In Berlin.

Meine Schwester wollte zu einem Probetraining gehen als ich gerade zu Besuch war. All die weißen Gestalten in den weiten Capoeira-Hosen sahen für mich zunächst ungewohnt aus – beinahe ein bisschen verkleidet. Dann ging es los. Ohne die eindringliche Musik aus dem einsaitigen Instrument Berimbau, der großen Trommel Atabaque und dem Pandeiro, dem Tamburin. Trocken sozusagen. Aber rasant. Schon die Grundbewegung, die Ginga, in der sich die brasilianischen Tänzer so scheinbar mühelos wiegen, ist ein Oberschenkeltraining gegen das sämtliche Callanetics, Pilates und wie sie alle heißen, einpacken können. Die Knie bleiben nämlich dabei gebeugt. Die ganze Zeit. Nach Minuten waren wir schweißüberströmt, kurz darauf keuchten wir, während die anderen mit komplizierteren Bewegungsabläufen, Tritten, Sprüngen und Drehungen anfingen. Alle ordentlich mit den portugiesischen Namen bezeichnet: esquiva lateral, für das seitliche Wegducken, martelo für den seitlich aus der Hüfte vorschnellenden Tritt, meia-lua für die Drehung des Beins und so fort. Das wirkte aus den deutschen Mündern dann wieder seltsam, und natürlich konnte ich mir nichts merken und fast nichts nachahmen.

Nach den eineinhalb Stunden Training hatte ich mehrere Liter Flüssigkeit verloren und Blut geleckt. Am nächsten Tag taten mir Muskeln weh, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte – abgesehen von allen anderen am gesamten Körper. Ich konnte mich kaum bewegen. Aber mein Entschluss stand fest: Ich wollte weiter machen. Der Capoeira-Lehrer im Nachbardorf war mir als durchaus gelassener, ein wenig langsamer Mensch bekannt – bei dem würde das Training sicher nicht so hart ausfallen.

Die Gruppe hier übt in einem Mehrzweckraum der Anwohnervereinigung, dessen Zementboden gefährliche Löcher aufweist, in denen sich schon manch einer den Zehennagel abgerissen hat. Keine Klimaanlage, nicht einmal ein Ventilator. In einer Ecke steht eine 20-Liter-Flasche lauwarmes Wasser. Die Musik kommt während des Trainings aus einem Transistorradio, erst wenn es ans Spielen in der Runde geht, bedient der Chef das Berimbau. Beim ersten Mal konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten, als es nach Stunden soweit war für die Runde, die roda, in der zwei Spieler aufeinander treffen. Keine Gnade, ich musste auch rein – obwohl ich noch nicht mal die Ginga richtig verstanden hatte. Von wegen langsam. Hochkonzentriert und flüssig zieht der Mann hier ein dreistündiges Training durch, das für Spitzensportler angelegt sein muss. Das Aufwärmen allein kostet mehr Schweiß als der Normalmensch pro Tag zur Verfügung hat. Hinterher dauerte es dreimal so lange wie sonst, den Hügel bis zu meinem Haus herab zu steigen.

Das ist drei Monate her. Wenn ich nicht gerade auf Reisen bin, gehe ich seitdem zu allen Abend-Trainings. Selbst eine Hornhautentzündung konnte mich kürzlich nicht abhalten. Der Hügel macht mir inzwischen weder bergauf noch bergab etwas aus. Der Rückweg im sanften Mondlicht ist regelmäßig einer der größten Glücksmomente des Tages. Manche Refrains kann ich schon mitsingen. Und so ganz allmählich bekomme ich auch eine Ahnung davon, was damals Mestre Nenel gemeint hat, als er von der Philosophie der Capoeira sprach. Mit den Muskeln scheint auch die Gelassenheit zu wachsen. Ich habe selten irgendwo so eine absolut konkurrenzfreie Stimmung erlebt, wie beim Training: Jeder freut sich über die Fortschritte der Anderen, egal auf welchem Niveau. Geduldig zeigt uns der Lehrer auch zum hundersten Mal die gleiche Bewegung. Und Konflikte werden lachend gelöst.

Letztens kam zur Runde, schon abends gegen 22 Uhr unerwarteter Besuch. Erst wehte eine Schnapsfahne in den Raum, dann kam ein Mann hinterher. Er wollte mit spielen. Trat energisch in die Roda und drängte einen der beiden Spieler mit eher groben Fußtritten hinaus. Zurück blieb einer unserer besten Capoeiristas. Der jagte den Fremden in einem Irrsinnstempo durch die Runde, schleuderte ihm die Beine rechts und links über die Schulter, ließ ihm Tritte millimetergenau vor dem Gesicht stoppen, und machte sich nach Strich und Faden dabei über den Eindringling lustig. Bis alle sich vor Lachen hielten. Und der Schnaps-Mann sich betreten zurückzog.

Grandiose Philosophie. Mir fehlen allerdings bis zu ihrer Umsetzung in der Runde noch ein paar Jährchen. Ich glaube ab jetzt mache ich das Morgentraining am Samstag auch noch mit.

foto: wollowski (wie immer, wenn nicht anders angegeben)

Montag, 27. Oktober 2008

Die Sorgfalt der grünen Männer

Hier im Dorf funktioniert die Müllabfuhr ganz hervorragend. Fleißige grüne Männer durchziehen in aller Herrgottsfrühe die wenigen Straßen und reichlich steilen Gassen, und laden alle am Wegrand abgestellten oder auf Pfosten gehängte Plastik-Mülltüten ein, die sie so finden können. Gelegentlich sieht man sie auch akribisch wildwuchernde Pflanzen vom Straßenrand weghacken oder Einzelabfall aus Wasserrinnen herausfischen. Nie habe ich gesehen, dass die grünen Männer wer kontrollieren würde – die ganze Sorgfalt ist freiwllig.

In den Straßen (Hauptverkehrsadern) kommen die grünen Männer jeden Morgen vorbei. An meinem Haus, das oben auf dem Hügel steht, immerhin dreimal pro Woche. Das heißt, der Dorfplatz ist auch nach einem turbulenten langen Wochenende spätestens am Montag Mittag wieder sauber. Ebenso wie die Rinnsteine neben dem Getränkemarkt oder vor den wenigen Kneipen., die an solchen Wochenenden von den Urlaubern leergetrunken werden. Das ist umso bemerkenswerter, als hier fast niemand Grundsteuern bezahlt – und die Müllabfuhr trotzdem für uns Einwohner kostenlos ist. Kurz: Unser Dorf ist ein sauberes.

Der Brasilianer an sich, wenn er nicht gerade in einem touristisch gepflegten Naturpark mit entsprechenden Umwelterziehungsprogrammen vom Baby bis zum Opa wohnt, hat kein verstärktes Umweltbewusstsein. Kaum hat er eine Tüte Salzsnacks geleert, lässt er sie einfach seiner Hand entgleiten, egal, ob er gerade im Bus sitzt, im Auto, oder auf der Straße steht. Tüten sind hierzulande übrigens immer noch in reichlichem Maß bei jedem Einkauf kostenlos erhältlich. Manche Waren wie Seifen werden – bevor sie in die große Tüte kommen -, extra noch in eine kleine verpackt. Und viele Supermärkte kaufen aus Sparsamkeit so hauchzarte Tüten, dass die Einpacker an der Kasse mindestens zwei davon ineinander stecken, damit eine Chance besteht, den Einkauf darin tatsächlich bis nach Hause tragen zu können.

Zuhause ist natürlich alles anders. Meine Nachbarn etwa fegen ihre Terrasse und ihren kleinen Hof mit gestampftem Lehmboden jeden Tag. Letztens habe ich den weißhaarigen Herrn beobachtet, wie er Laub und Plastikfetzen zusammen und immer weiter von seiner Terrasse weg kehrte. Dabei unterhielten wir uns über die ersten Cashews, die jetzt reifen und andere Alltagsthemen. Bis er mit einem finalen Schwung den ganzen Haufen Unrat endgültig von sich schob. In meinen Garten. Vorsichtig, um die zarten nachbarschaftlichen Bande zwischen uns nicht gleich zu zerreißen, wies ich ihn darauf hin, dass er da Plastikmüll abgesondert hatte, der sich mitnichten in Humus verwandeln würde. Den ich deswegen nicht schätzte, in meinem Garten. Unverständliches brummelnd, zog sich mein Nachbar zurück auf seine sauber gekehrte Terrasse. Ich griff mir eine der Tüten, sammelte darin des Nachbarn Müll und stopfte alles zusammen in meine häusliche Tonne.

Am nächsten Tag erwachte ich von einem Kehrgeräusch auf der Hausvorderseite. Später sah ich: es war meine Nachbarin. Sorgfältig kehrte sie Laub und Plastikmüll neben ihrem Haus zusammen auf einen großen Haufen und verschwand. Leider lag der Haufen direkt neben meiner Grundstücksgrenze, etwa einen Meter höher. Kurz: Der Wind trieb den Müll binnen weniger Stunden komplett in meinen Vorgarten. In meinem hinteren Garten fanden sich ein paar Seiten aus dem Schulheft ihrer Tochter sowie ein paar leere Snacktüten. Ich nahm eine leere Hundefuttertüte, sammelte darin sowohl diesen als auch weiteren Müll, den ich auf der anderen Straßenseite im Gebüsch entdeckt hatte: Einwegwindeln, Schnapsflaschen, Altkleider. Die komplette Beute platzierte ich zusammen mit einem alten TV-Gehäuse, einem zerbrochenen Waschbecken und diversen rostigen Stangen, die nicht in die Futtertüte passten, am Straßenrand: für die grünen Männer.

Am nächsten Tag kamen sie. Planmäßig. Häuften alle üblichen Tüten auf ihre Schubkarre, packten die Futtertüte ganz oben drauf – und wollten weiter ziehen. „Und was ist mit dem Restmüll“, fragte ich erstaunt. Zwei zogen mit dem Karren weiter hügelabwärts, als hätten sie mich nicht gehört. Der dritte blickte ratlos auf das TV-Gehäuse, das Waschbecken und die Eisenteile. Schließlich meinte er: „Warum wirfst du das nicht einfach ins Gebüsch?“ Dann ging auch er.

Unbekannte steckten die Übriggebliebenen in Brand, als ich gerade nicht zuhause war. Zurück blieben hässlich verrußte Teile, die den grünen Männern gar nicht gefielen. Durch freundlich-hartnäckiges Im-Weg-Stehen-Bleiben konnte ich sie erst Tage später nötigen, die Brandopfer doch noch mit zu nehmen. Dann aber kehrten sie eifrig auch noch den letzten Aschestaub zusammen. Nicht ganz freiwillig, aber sehr sorgfältig.

Dienstag, 21. Oktober 2008

Der Motoboy weiß mehr


Nach dem Baden war das Ohr verstopft. Nicht schmerzhaft, nur dicht, was zu leichter Taubheit führte. Weil das lästig ist und auch abends noch nicht vergangen war, wollte ich Abhilfe schaffen. Selbstmedikation ist hier wohl noch verbreiteter als in Deutschland, weil die wenigsten krankenversichert sind. Also müssen sich die Apotheker eben besser auskennen. Dachte ich.

Die nette Conceicao aus der Apotheke im Nachbarviertel wusste gleich Abhilfe. Sie versprach, einen Motoboy* gleich mit den entsprechenden Tropfen vorbei zu schicken. Nein, der Lieferservice koste nicht extra. Toll. Dachte ich.

Wenig später hupte der Motoboy vor meiner Tür, nahm umgerechnet vier Euro in Empfang, drückte mir eine Medikamentenschachtel und eine Quittung in die Hand und brauste davon. Erstaunlicherweise handelte es sich um ein verschreibungspflichtiges Medikament, durch einen roten Balken auf der Packung gekennzeichnet. Viele Apotheken verkaufen rezeptpflichtige Arznei ohne Rezept. Aber ich hatte ja erklärt, dass ich nur ein verstopftes Ohr hatte, keine Entzündung oder sonstige schlimme Beschwerden.

Der Beipackzettel klärte mich auf: Conceicao hatte mir Kortison-Tropfen geschickt. Die helfen gegen allerlei Entzündungszustände. Ob sie Verstopfungen auflösen können, sagte der Beipackzettel nicht. Also rief ich Conceicao erneut an. Ob sie sich vielleicht geirrt habe? Nun ja, das Medikament gehe sonst sehr gut, sagte die freundliche Dame. Aber wenn ich wirklich meinte, es sei zu stark für meine Ohrenverstopfung, dann hätte sie da noch ein anderes, genau das richtige für mein Problem. Das wäre sogar rund eineinhalb Euro günstiger.

Das Wechselgeld, das der Motoboy mir bei der nächsten Lieferung mit der nächsten Packung in die Hand drücken wollte, gab ich ihm als Trinkgeld zurück: Der Arme war jetzt zum zweiten Mal drei Kilometer über Buckelpiste durch die Nacht gefahren. Erstaunlicherweise wies auch die neue Packung wieder einen roten Balken auf, war also ebenfalls rezeptpflichtig. Neugierig beugte ich mich über das Kleingedruckte. (Beipackzettel müssen auf besonders teurem Papier gedruckt sein, von dem so wenig wie möglich verschwendet werden darf, anders sind die für Normalsichtige nahezu unlesbaren Schriftgrößen nicht zu erklären.) Dieses Mal hatte Conceicao mich mit einem so starken Antibiotikum versorgt, dass der Hersteller extra darauf hinwies, es solle nur dann eingesetzt werden, wenn kein anderes Medikament in Frage käme.

Im Internet fand ich ziemlich schnell, was ich eigentlich suchte: lösende Tropfen gegen Ohrverstopfung, zwei Varianten, ein homöopathisches Mittel, ein allopathisches, beide mit Namensangabe, beide ohne Rezeptpflicht. Also rief ich Conceicao zum dritten Mal an. Das muss sie als Kritik aufgefasst haben, denn sie erklärte mir, sie habe 20 Jahre Erfahrung. Zum Glück hatte sie außerdem auch das allopathische Lösungsmittel gegen verstopfte Gehörgänge. Es kostete mehr als das Antibiotikum, aber Conceicao gewährte mir großzügig eine Art Irrtumsrabatt.

Als der Motoboy zum dritten Mal vor meiner Tür hupte, entschuldigte ich mich für die Umstände. Er blickte kurz auf das neue Päckchen in seiner Hand und sagte fachmännisch: „Ach, Cerumin wolltest du haben - das verschreiben die Otorrinolaringologistas (so heißen die HNOs hier) gerne, wenn jemand nach dem Baden verstopfte Ohren hat.“ Manchmal weiß der Motoboy mehr als die Apothekerin.
Das hatte ich nicht gedacht.

*Motoboy werden Lieferanten genannt, die gegen geringe Gebühren Botenfahrten auf dem Moped erledigen

Sonntag, 19. Oktober 2008

Exklusives Fressen


Es ging ihr um die Quote. Nicht nur ihr. Aber sie war die einzige, die es geschafft hat, den jugendlichen Entführer mitten in der Entführung exklusiv und live in ihre Sendung zu bekommen. Synchron zu dieser journalistischen Sonderleistung kritisierte der Moderator eines anderen Senders das „unverantwortliche Verhalten“ der Kollegin und gab zu bedenken, immerhin seien Entführer psychisch labile Personen. Blödsinn, muss sich Sonia selbstbewusst gedacht haben, als sie sich in ihrer Sendung forsch zur „Vermittlerin“ zwischen Entführer Lindemberg und seiner Familie aufschwang.

Der 22Jährige hatte die Wohnung seiner 15jährigen Ex gestürmt, die er zwar einen Monat zuvor verlassen hatte, nun aber gerne zurück haben wollte. Nach eigener Aussage wollte er sie zu einem Gespräch zwingen. Da die Schülerin gerade mit Freunden lernte, traf er drei weitere Jugendliche an, und machte aus dem Überraschungsbesuch eine Spontan-Geiselnahme. Zwei Revolver und eine ganze Tüte voller Munition hatte er dabei. Wieso, hat ihn Sonia nicht gefragt. Zum Zeitpunkt des Live-Interviews hatte er die anderen Jugendlichen bereits frei gelassen, und Spezialisten der Polizei verhandelten bereits seit mehreren Tagen mit ihm über eine Freilassung auch von Eloá.

Als Sonia Abrao den Geiselnehmer Lindemberg auf seinem Handy anruf, erbot der sich freudig, in ihrer Sendung live über seine Lage zu reden. Das brachte Sonia und dem eher unbedeutenden Sender TV! Fünf Minuten lang gleiche Quoten mit den „Großen“ Record und SBT.

“Da sag nur einer, ich habe die Verhandlungen gestört, das ist nicht wahr. Niemand hier handelt unverantwortlich, ich kann das machen, und würde es auch wieder tun. Falls etwas passiert, dann nicht wegen uns“, da habe sie ein reines Gewissen.

Nach dem Live-Interview lief alles anders. Plötzlich wollte der junge TV-Star die letzte Geisel nicht mehr herausgeben. Noch plötzlicher schlüpfte die bereits freigelassene Freundin Nayara spontan zurück in die Wohnung zu Eloá und dem Geiselnehmer. Ein Schuss fiel. Das Sondereinsatzkommando stürmte – mit Gummikugeln in den Waffen – die Wohnung. Weitere Schüsse fielen.

Das geschah am Freitag Nachmittag. Gestern nachts um 23 Uhr 30 wurde bei der Schülerin Eloá infolge der schweren Kopfverletzung der Hirntod festgestellt. Ihre Freundin Nayara erholt sich von einem Kopfschuss. Lindemberg ist unverletzt in Polizeigewahrsam,.

Manche geben die Schuld dem brasilianischen Polizeisystem. Manche nur dem Polizeichef, der das Stürmen der Wohnung beschlossen hat. Manche fragen, wieso eine 15Jährige überhaupt seit fast drei Jahren einen Freund haben kann.

Lindemberg soll vor Polizisten nur ständig wiederholt haben, er liebe Eloá, er wolle nur Eloá, sie sei alles in seinem Leben. Die Beamten sagten der Presse, der junge Mann sei offensichtlich vollkommen verstört und sich der Geschehnisse nicht bewusst. Sein Anwalt lehnt es ab, ihn weiter zu vertreten. Das Volk will ihn lynchen. Zur eigenen Sicherheit wurde er deswegen in ein anderes Gefängnis verlegt.

Eloás Eltern haben derweil beschlossen, die Organe ihrer toten Tochter zu spenden.

Statistiken zeigen: Die Sender, die ihre Programme für die Live-Berichterstattung über das Geiseldrama unterbrochen haben, hatten die besseren Quoten. War ja auch ein besonders exklusives Fressen.

Foto (ig.ultimosegundo):AE
Trauernde Freunde von Eloá

Samstag, 18. Oktober 2008

Lula und Marta: Opfer von Vorurteilen


Er konnte nicht unmittelbar darauf eingehen, was seine Lieblingskandidatin Marta in Sao Paulo verzapft hatte, weil er auf Reisen war. Aber jetzt ist Präsident Lula zurück und eilte der Genossin endlich zu Hilfe. Marta Suplicy hatte sich in der vergangenen Woche mit indiskreten Fragen zum Privatleben des Gegenkandidaten als geeignete Bürgermeisterin von Sao Paulo profilieren wollen – was zu reichlich Polemik und eher Stimmenverlust als Stimmengwinn geführt hatte. Die umstrittenen Radiospots werden übrigens längst nicht mehr ausgestrahlt.

Laut „O Globo“, einer der wichtigsten Zeitungen des Landes, sagte Lula heute wörtlich:

"Ich war nicht da (auf Reisen im Ausland) als ich ein weiteres Vorurteil gegen diese Frau sah, das die Idee verbreiten wollte, diese Frau habe Vorurteile gegen Homosexualität. Gerade diese Frau, die als wir alle Vorurteile hatten, schon im Fernsehprogramm ‘TV Mulher’ die Minderheiten dieses Landes verteidigte.“*

Weiter habe der Präsident in Sao Paulo heute gesagt:

“Sie haben es geschafft, eine Kämpferin und Verteidigerin aller Minderheiten dieses Landes in eine Anklägerin eben dieser Minderheiten zu verwandeln. Oft nehmen wir so einen Schlag einfach hin und schlagen nicht zurück.Wer nimmt denn an den Paraden auf der Avenida Paulista teuil und wird auf der Avenida Paulista vergöttert? Wer wurde schon Opfer von Vorurteilen, weil sie Minderheiten verteidigt hatte? Genau diese Marta Suplicy."

Danach verglich er die gebeutelte Kollegin mit sich selbst, ebenfalls einem Opfer von Vorurteilen:

“Ah, mein Gott im Himmel, wenn die Presse nur mich jedes Mal verteidigen würde, wenn sie mir diffamierende Fragen stellen. Wenn sie mich jedes Mal verteidigte, wenn jemand fragt: 'sprechen Sie Englisch?', also können Sie Brasilien nicht regieren.”

Kommentare erübrigen sich.

Alldieweil der wichtigste Mann im Staat abschließend auch noch den Grund lieferte, warum überhaupt Martas Wahlkampfbüro auf die Idee kam, Fragen zu verbreiten, die dem politischen Gegner Homosexualität unterstellten:

“Wir sprechen nur schlecht über den Anderen, wenn wir nichts Besseres zu präsentieren haben.“


*der etwas holperige Stil ist eine Spezialität des Präsidenten – vor allem beim freien Reden

Foto (O Globo): Antonio Milena/AE

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Relaxe e goze, Marta

Einfach so heraus gerutscht ist es ihr dieses Mal garantiert nicht. Das konnte Marta Suplicy Ex-Bürgermeisterin von Sao Paulo, Ex-Tourismusministerin und aktuelle Bürgermeister-Kandidatin für Sao Paulo beim letzten peinlichen Spruch noch behaupten. Mitten in der Luftfahrtskrise des Landes, als Passagiere wegen Überbuchungen stunden- und tagelang auf ihre Verbindungen warteten und manche gar das Weihnachtsfest auf Flughäfen verbrachten, hatte die Ministerin geraten: „relaxe e goze“. Die Menschen sollten demnach einfach „entspannen“ und - tja, wie übersetzt man jetzt den zweiten Teil? Genießen, ließe sich sagen. „Einen Orgasmus haben“ gehört außerdem zu den gebräuchlichen Bedeutungen von „gozar“. „Relaxe e goze“ wird seitdem genüsslich bei den diversesten Gelegenheiten zitiert. Zuletzt bei einer Gay parade.

Die Gay community von Sao Paulo gehört übrigens zu den Stammwählern von Marta, die sogar bei Besuchen in Favelas ostentativ Designer-Klamotten trägt, für ihre Shoppingtiuren nach Europa berühmt ist, und die ihre öffentliche Karriere als TV-Sexologin begann. Irgendwie ist ihr da wohl etwas durcheinander geraten. Letzte Woche verbreitete ihre Wahlwerbung einen Spot, der ziemlich penetrant die Wähler fragte: „Kennen Sie Kassab? Wissen Sie ob er verheiratet ist? Ob er Kinder hat?“ Kassab ist amtierender Bürgermeister von Sao Paulo, knapper Gewinner der ersten Wahlrunde und Martas Gegner bei der Stichwahl am letzten Oktober-Wochenende. In Umfragen liegt er vor der Ex-Bürgermeisterin, die nach ihrer Amtszeit so desaströse Finanzen hinterließ, dass ihr Nachfolger beinahe zwei Jahre brauchte, um Brasiliens Wirtschaftsmetropole aus den roten Zahlen zu manövrieren.

Kassabs eindeutiger Vorsprung mag Marta nervös gemacht haben. Unter ihren Stammwählern hat es allerdings eher zu allgemeiner Unzufriedenheit geführt, dass die zweideutigen Fragen ihres Radiospots die Gerüchte-Küche um Kassabs mögliche Homosexualität bedienen. „Verletzung der Privatsphäre, Vorurteile und Homophobie“, warfen Sprecher von Gays und Feministinnen der Kandidatin vor. „Dumm“, waren die Fragen, fand der Organisator der Sao Paulo Gay Parade. „Verheiratet sein, ist auch Politik, alles ist Politik“, verteidigte Marta wenig überzeugend ihre Kampagne. „Sie kann doch nicht zum Feind übergetreten sein, das ist unmöglich!“, kommentierte entsetzt die Hardcore-Feministin Maria Amélia de Almeida Teles. Insgesamt jedoch ist es den Wählern, so zeigt eine neue Umfrage, zu zwei Dritteln völlig schnuppe, ob ihr Kandidat Familie hat, oder nicht. Die Frage beschäftigte schließlich das Gericht: Dürfen Wahlkampagnen so direkt unter die Gürtellinie zielen?

Dürfen sie nicht. Kassab bekam deswegen Gelegenheit zur Antwort - innerhalb der Sendezeit, die eigentlich Marta für ihren Wahlkampf zugestanden hätte. „Mein Leben ist ein offenes Buch“, beteuerte Kassab also sichtlich glücklich. Martas dumme Fragen haben seine Umfragewerte auf heute 51 Prozent der Wahlabsichten in die Höhe getrieben. Sollte sie Ende Oktober verlieren, kann sich seine Gegenerin außerdem auf ihren eigenen Kommentar gefasst machen: „Relaxe e goze, Marta!“

Montag, 13. Oktober 2008

Ausverkauftes Blond, plötzlicher Rassismus und ein Todesurteil


Ich träume von langen Haaren. Immer schon. Jeder hat so seine kleinen Eitelkeiten und heimlichen Wünsche, warum also nicht lange Haare. In Brasilien ist der Wunsch naturgemäß eher noch stärker geworden. Neben all den herrlichen langen, dichten Locken, die hier so durch die Gegend schwingen, sieht mein eigener Flaum noch dünner aus als sonst. Ich weiß, dass manche hiesigen Lockenbesitzerinnen ihre Pracht ohne zu zögern gegen meinen Flaum tauschen würden – weil er blond ist. Das nutzt mir aber wenig, denn bekanntlich sind die Zeiten vorbei, in denen das Wünschen noch geholfen hat.

Oder auch nicht. Vor ein paar Monaten in Rio weckte eine Freundin neue Hoffnung in mir. Sie war gerade dabei, einem Bekannten lange Rastazöpfe zu flechten. Nicht, dass der Bekannte lange Haare gehabt hätte, er hatte einen dürren drahtigen Krauskopf, bevor sie mit dem Flechten anfing. Dank diverser Pakete „Dream Hair“ konnte er einige Stunden später eine Fülle winziger Zöpfchen weit über seine Schultern schwingen lassen. „Das mache ich dir auch“, versprach meine Freundin, „du musst nur die Haare kaufen.“

Ich lernte eine Straße in Rios Zentrum kennen, die ich nie zuvor betreten hatte und in der sich ein Falsch-Haar-Laden an den anderen reiht. Manche verkaufen auch Echthaar-Implantate, da kostet eine knappe Handvoll blonden Flaums – allerdings gute 60 Zentimeter lang – lockere 80 Euro. Dream Hair hingegen gibt es ab umgerechnet 2 Euro 50 das Päckchen. Nur nicht in Hellblond. Jedenfalls nicht an diesem Tag und auch nicht am nächsten und übernächsten. Ich fuhr fünfmal ins Zentrum, solange ich in Rio war, aber Hellblond blieb ausverkauft. „Das liegt daran, dass Blond unter den Käuflichen in Copacabana gerade in Mode ist“, tröstete mich meine Freundin. Zurück zu Hause musste ich feststellen: In Recife war Hellblond auch ausverkauft.

Fündig wurde ich Monate später - in Berlin. Geflochten hat dann eine Ghanaesin in München, deren Deutsch weniger weit reichte als ihre Geduld: So blieb unsere Unterhaltung sehr bruchstückhaft, während der Sitzung. Die ersten vier Zöpfchen ergaben ungefähr die Dicke meiner Echthaare, und knappe zehn Stunden später konnte ich unzählbar viele Rastazöpfe nahezu in meiner eigenen Haarfarbe aber von einer Länge bis weit unten auf den Rücken schwingen! So viel Haar hatte ich noch nie. Beinahe hätte ich meine persönliche Fee zum Abschied geküsst.

Wenig später zurück in meinem Fischerdorf, kam meine neue Haarpracht nicht ganz so gut an wie in Deutschland, wo die Zöpfe allen gefallen hatten. Im angeblich so gar nicht rassistischen Brasilien bekam ich Bemerkungen zu hören, wie: „Wenn jetzt die Weißen anfangen, Schwarze sein zu wollen, da hört sich doch alles auf!“ Oder „Dabei hatte sie so schöne Haare…“ Meine Ex-Friseurin drohte gar: „Dir werden die ganzen Haare ausfallen, du wirst schon sehen!“

So weit ist es nicht gekommen: Letzte Woche musste ich mich amputieren.

Schon ein paar Nächte lang hatte ich schlecht geschlafen, weil mich ein lästiger Juckreiz plagte. Ich dachte an Ameisen im Bett und suchte vergeblich. Bis ich im Haus einer Freundin über mein Leiden klagte. Die bekam ein schuldbewusstes Gesicht und fing an, auf meinem Kopf herum zu zupfen. Dann zerknackte sie etwas Undefinierbares zwischen Daumen und Zeigefinger und murmelte: „Ich fürchte, du hast auch welche abbekommen. Meine Tochter hat Läuse aus der Schule mitgebracht.“ Klang leider sehr plausibel. Die kleinen Knäuel, die meine nachwachsenden Haare am Ansatz inzwischen gebildet hatten, waren sicher ideale Laus-Nester. Kein Problem, Läuse loszuwerden: Einfach an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen die Haare mit Anti-Kopflaus-Shampoo waschen, das Ganze nach einer Woche wiederholen, fertig. Also ab in die Apotheke, Flasche Shampoo gekauft und nach Hause. Da entdeckte ich noch einen Hinweis in der Packungsbeilage: Haare so kurz wie möglich halten und mehrmals täglich mit dem feinen Kamm durchkämmen. Das war das Todesurteil für meine Zöpfe.

Ich machte noch ein Abschiedsfoto und schnitt sie ab, einen nach dem anderen. Lächerliche zwei Stunden später hatte ich meinen Flaum wieder. Der kam mir jetzt im Gegensatz so kärglich vor, dass ich mir ein Tuch umband, als ich das nächste Mal aus dem Haus ging. Unterwegs traf ich eine Bekannte, die mich prüfend ansah und mitleidig fragte: „Was ist mit deinen Haaren passiert? Hast du sie abgeschnitten?“ Ich gestand ihr die Geschichte und sagte traurig: „Vermutlich finde ich hier nie wieder jemanden, der mir neue Zöpfe flechten kann.“

„Ich kann das“, sagte meine neue Fee, „du musst nur die Haare kaufen, dann mache ich dir neue Zöpfe.“ Wenn nur das Blond nicht wieder ausverkauft ist.

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Schwarze Liste für das Telemarketing

Sao Paulo ist uns mal wieder einen Schritt voraus. Und wenn ich die Paulistanos weder um ihr Verkehrschaos, noch um ihre Luftverschmutzung beneide – die neue Liste hätte ich hier in Pernambuco auch gern. Weil ungefähr jeden zweiten Tag bei mir das Telefon klingelt. Nein, viel öfter klingelt der Festnetz-Apparat tatsächlich nicht: Privatmenschen haben Handys und deutsche Redaktionen kommunizieren per Mail.

Die meisten meiner Festnetz-Gespräche verlaufen etwa so: Eine sanfte Stimme säuselt „Guten Tag, mein Name ist Sheila, spreche ich mit Christine?“ Der Namenstrick weckt sofort im wehrlosen Unterbewusstsein eine Resthoffnung darauf, dass es um mich gehen könnte, in diesem Telefonat. Also lege ich nicht gleich auf. Und sage, „Ja, Sie sprechen mit Christine, worum geht es denn?“ Es geht um mein Geld. Immer. In den meisten Fällen wollen die Sheilas des Telemarketing mir eine Kreditkarte andrehen. Und wenn ich sage, „habe ich schon“, werden sie erst richtig heiss. So eine Sheila loszuwerden, kann dauern, schließlich sind sie darauf trainiert, sich nicht abwimmeln zu lassen. Mir ist dabei schon so mancher Kaffee übergekocht, Reis angebrannt oder Schlaf vergangen.

Wohnte ich in Sao Paulo, hätte ich demnächst Ruhe. Keine Sheilas mehr. Gestern hat der Gouverneur ein Gesetz unterschrieben, das eine schwarze Liste für Telemarketing vorsieht: Wer sich darauf einträgt, darf nicht mehr angerufen werden. Kein fröhliches Drauflos-Wählen für die Sheilas mehr, in Sao Paulo müssen sie bald erst auf die Liste gucken. Wer dann noch angerufen wird, ist selbst schuld – oder darf vor Gericht gehen, falls irgendein übereifriger Werber den Namen auf der Liste übersehen hat. Die Strafhöhen werden in den nächsten Wochen fest gesetzt. Ob andere Bundesstaaten planen, ähnliche Gesetze einzuführen, ist leider bislang nicht bekannt.

Heute habe ich eine Rundmail bekommen. So eine, die schon von weitem nach Virus riecht, weil die cc-Liste so lang ist. Ich habe sie trotzdem geöffnet, weil im Betreff stand: „Rache dem Telemarketing“. Hat sich gelohnt. Als mich wenig später eine Lygia anrief, die mir eine Kreditkarte andrehen wollte, habe ich gesagt. „Oh, das interessiert mich sehr. Ich habe nur gerade einen Topf auf dem Herd stehen, könnten Sie bitte kurz dran bleiben?“ Natürlich konnte Lygia dran bleiben. Ich habe erst mal in Ruhe Kaffee getrunken, Wäsche gewaschen und Blumen gegossen. Gelegentlich habe ich vorsichtig den Hörer hochgehoben, um zu lauschen, ob Lygia noch wartet. Sie hat eine halbe Stunde ausgehalten, dann war sie weg. Fand ich beinahe ein bisschen schade. Deswegen habe ich beschlossen, das System zu perfektionieren. Diese Wartezeit lässt sich sicher noch steigern, durch kurze Zwischenbescheide, wie bei den Firmenwarteschleifen, etwa so: „Nur noch einen Moment Lygia, ich komme sofort…“.

Ich hoffe schon den ganzen Tag, dass das Telefon klingelt und mich eine Sheila anruft. Hoffentlich hat Lygia mich nicht auf eine schwarze Liste gesetzt. Sie hat aus Sao Paulo angerufen, und da sind sie uns ja immer einen Schritt weiter.

Sonntag, 5. Oktober 2008

Prost auf die Demokratie

Heute ist hier im Ort schon seit morgens Party. Die ganze Hauptstraße entlang sitzen die Menschen auf den Bürgersteigen und trinken und lachen und diskutieren. Heute sind Kommunalwahlen, und eigentlich ist es hier im Bundesstaat den ganzen Tag verboten, alkoholische Getränke zu verkaufen. Vielleicht haben sich die fröhlichen Feierer schon vorher mit Bier und Schnaps eingedeckt und jetzt Kühltaschen mitgebracht?

Vielleicht ist das Trinken aber auch ihre Art, sich über die gezwungene Ausübung der Demokratie lustig zu machen, nach dem Motto: Wenn ich schon wählen muss, wähle ich eben betrunken. In Brasilien müssen alle Menschen zwischen 18 und 70 Jahren wählen gehen. Das ist seit 1932 so, und dementsprechend haben wir hier Wahlbeteiligungen von 85 Prozent – die laut Untersuchungen auf 55 Prozent absinken würde, wäre das Wahlrecht freiwillig auszuüben. Wer weder wählt, noch sein Nicht-Wählen ordentlich entschuldigt, darf sich nicht auf öffentlich ausgeschriebene Stellen bewerben, keinen Personalausweis oder Reisepass beantragen – oder muss eine Strafe von bis zu 45 Reais zahlen. Das sind umgerechnet weniger als 20 Euro, aber so weit hat vermutlich niemand das Gesetz gelesen. (Lei 4737/65. art 7º).

Wer nicht lesen kann, muss übrigens nicht wählen: Analphabeten sind von der Wahlpflicht ausgenommen. Warum? Ist mir unbekannt. Theoretisch sind sie auch nicht wählbar, so steht es jedenfalls in der Verfassung. Die Christliche Soziale Partei (PCS) findet, dadurch würden die 16 offiziell registrierten Millionen Analphabeten des Landes benachteiligt. Vielleicht wird also demnächst diese Bestimmung der Verfassung als nicht verfassungskonform erklärt. Die Analphabeten unter den Kandidaten müssten sich natürlich auch nicht so blauäugig outen, wie das in diesem Jahr zwei Bürgermeisterkandidaten, 15 Kandidaten für Vizebürgermeister und 294 Gemeinderatskandidaten getan haben, die offen zugeben, weder lesen noch schreiben zu können. Weitere 76.000 Kandidaten haben keinen mittleren Schulabschluss – darunter sind sicher auch noch ein paar funktionale Analphabeten versteckt.

Der Spitzenkandidat hier in Recife kann sicher lesen und schreiben – immerhin wäre seine Kandidatur beinahe daran geplatzt, dass seine Mitarbeiter im Erziehungssektor der Stadt per Mailkampagne für ihren Chef als künftigen Bürgermeister geworben haben. Ein öffentliches Amt und die damit verbundenen Privilegien für den Wahlkampf zu nutzen, ist gesetzeswidrig. Joao behauptet frech, alle seine Mitarbeiter haben freiwillig und spontan ihre positive Meinung über den Chef verbreitet, er habe da keinen Einfluss drauf gehabt. Resultat: Joao bleibt wählbar, und es sieht ganz so aus, als werde er der neue Bürgermeister. Mit noch mehr Mitarbeitern, auf die er keinen Einfluss haben wird. Dann doch lieber einen Analphabeten? Oder nicht wählen und Strafe zahlen? Oder gleich einen trinken gehen?

Inzwischen ist es übrigens draußen noch ein bisschen lauter geworden: Seit 18 Uhr ist der Alkoholverkauf wieder erlaubt und es kann Nachschub besorgt werden. Prost auf die Demokratie!

Dienstag, 30. September 2008

Jetzt also Maria

Am Sonntag rief überraschend Maria an. Sie wolle mit mir reiten gehen. Sagte sie. Tatsächlich wollte sie mir die Neuigkeit mitteilen. Dass sie einen neuen Freund hat, und zwar einen Holländer. Der wolle etwas Festes. Und heute komme er zu ihr nach Hause, wer weiß, vielleicht würde er sie bald beim Ausbau ihres Rohbaus unterstützen. Oder gar ein Haus für sie kaufen. Wer weiß. Dann klingelte Marias Handy. Der Holländer war dran. Die wichtigsten Dinge waren schnell gesagt, auch ohne große Fremdsprachenkenntnisse: Kiss. Saudade.

Bei mir im Kopf klingeln dann schnell die Klischees. Von den treuen, großzügigen Europäern und den exotischen, erotischen, kaum von Emanzipation verdorbenen Nordost-Brasilianerinnen. Das Dumme ist: oft läuft es wirklich so. Ich habe da eine bildhübsche junge Dame erlebt, interessiert an Mode und Haarkunst und Tanzen. Die fabrizierte für ihren Europäer – den sie „mein griechischer Gott“ nannte – Hausmannkost und wusch ihm die Wäsche. Kaum hatte er sie nach Deutschland eingeladen, lernte sie diverse andere griechische Götter kennen. Und wechselte später ohne Tränen zu vergießen zu einem, der außer blauen Augen auch noch eine Firma sein eigen nannte.

Als ich einmal Besuch von zwei Freunden hatte, die beide blond und blauäugig und nicht einmal hässlich waren, klopften Frauen bei mir an der Tür, die bislang noch nie mit mir geredet hatten. Umgekehrt erzählte mir ein Bekannter, als er seine brasilianische Ehefrau am Strand von Boa Viagem kennen gelernt habe, hätte sie ihn nahezu sofort gebeten: Nimm mich mit nach Deutschland. Natürlich gibt es Ausnahmen. Natürlich finden sich manchmal zwei, die sich wirklich von Herzen gern haben.

Heute traf ich im Mini-Baumarkt eine Freundin von Maria. Sie war ziemlich in Eile, weil sie den Holländer in seinem Hotel abholen und zu Marias Haus bringen musste. Der wollte dort den Tag verbringen. Und, sagte die Freundin, „das ist eine ernste Sache: Er hat schon gefragt, wo es hier einen Juwelier gibt…“ Dann verabschiedete sie sich, zu ihrem Job als Cupido und Dolmetscherin für das turtelnde Pärchen.

Natürlich gibt es hier keinen Juwelier. Es laufen ja selbst die Damen der besseren Gesellschaft mit billigem Modeschmuck herum, um keine Banditen anzulocken. Sollte also der Holländer Maria einen echten Ring schenken, wird sie womöglich einen Safe anmieten müssen. Denn ihr Haus ist ein Rohbau, mit Fensterlöchern, durch die die Vögel hereinfliegen können. War bislang kein Problem, denn es gab keine Wertsachen zu stehlen. Das könnte bald anders werden.

„Naja, er hat mir schon Geld gegeben“, druckst Maria herum. „Aber bezahlt hat er mich nicht, das würde ich nie machen.“ Stattdessen träumt sie weiter. Ihr Neuer war schon in Dubai, vielleicht nimmt er sie dahin mal mit? Aber wichtiger wäre doch zuerst das Haus. Und unabhängig wird sie trotzdem bleiben. Arbeiten. Capoeira tanzen. Wenn er das erlaubt. Wer weiß.

Ja, wer weiß. Jetzt also Maria.

Sonntag, 28. September 2008

Lula ist der Größte

Unser Präsident ist der Größte. Das brasilianische Volk liebt ihn, wie noch nie in seiner gesamten Amtszeit: mehr als 77 Prozent loben den Mann persönlich, immer noch mehr als 68 Prozent sind mit seiner Regierung einverstanden, sagen die neuesten Umfragen. Sein Lieblingsspruch: „Niemals in der Geschichte dieses Landes“, mit dem er gerne die von ihm bewirkten Superlative aufzählt: … wurde so viel für die Indios getan, …wurde so viel für die Armen getan, … gingen so viele Kinder zur Schule, etc. ist längst zur festen Redewendung geworden. Kein Wunder, dass Lula in diesen Tagen den Mund noch ein bisschen voller nimmt, als sonst.

Kürzlich hatte der einfache Metallarbeiter sogar Gelegenheit via UNO quasi zum Weltvolk zu sprechen, jedenfalls zu dessen Staatsmännern. Gebührend selbstsicher trat er auf. Erklärte uns allen, warum die Wirtschaft der USA in der Krise ist. Weil die USA nämlich eine Wirtschaftspolitik betrieben, die nur auf maximalen kurzfristigen Gewinn ausgerichtet ist. Stattdessen müsse auch in der Wirtschaft ethisch gehandelt werden, erklärte der brasilianische Präsident., der bekanntermaßen einem Land vorsteht, in dem besonders ethisches Wirtschaftsverhalten an der Tagesordnung ist.

Mehr noch: „Ich habe das von den G8-Staaten verlangt und auch von der Weltbank, dass die sich mal melden zu der Sache – wenn ein kleines Land in die Krise gerät, sind sie gleich mit Rat und Tipps zur Stelle, wenn es um ein großes Land geht, hören wir nichts von ihnen“, meckerte der einzige Vertreter Lateinamerikas bei der UNO-Sitzung. So weit waren wir auch noch nie in der Geschichte dieses Landes, dass Brasilien der Weltbank auf die Füße tritt. Und der Mann scheint Recht zu haben. Die Amerikaner jedenfalls haben nicht etwa über die nicht sonderlich originellen Sprüche gelächelt, sondern dem Brasilianer positive Schlagzeilen gewidmet. Im Wall Street Journal hieß es etwa, Lula sei der Verteidiger eines Mittelwegs zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Dann allerdings auch noch - etwas weniger schmeichelhaft, er „balanciere auf einem schmalen Grat zwischen den Praktiken einer orthodoxen Wirtschaftspolitik und der Finanzierung populistischer Sozialprogramme.“

Tatsächlich, teure Sozialprogramme gibt es jedes Jahr mehr. . Allein die wichtigsten - vom Bolsa Familia, das den regelmäßigen Schulbesuch mit Geldwert belohnt, über Programme gegen Kinderarbeit, welche zur Alphabetisierung, bis hin zu Uni-Stipendien für Bedürftige – machen in diesem Jahr Ausgaben in der Größenordnung von mehr als 8 Milliarden Euro aus. Die Finanzierung sieht der Präsident wohl nicht weiter gefährdet, denn wir haben ja jetzt laut Lula den ersten brasilianischen Scheich. In der Person des Vorsitzenden der Petrobras, die bis 2012 voraussichtlich 112 Milliarden Dollar in die Förderung der neu entdeckten Erdölvorkommen investieren wird.

Das einzige Problem ist das Ende von Lulas Amtszeit. Denn so beliebt der Mann, so chancenlos scheint seine Partei ohne ihn. Ist es ihm überaus geschickt gelungen, sich bei sämtlichen Skandalen als unschuldigen Mit-Geprellten darzustellen, so hat das Volk der ehemaligen Partei der Saubermänner doch die größten und meisten Korruptionsvorkommnisse in der Geschichte dieses Landes ein wenig übel genommen. Der Philosoph Roberto Romano sagte gar letztens: „Die PT läuft Gefahr, sich aufzulösen, wenn Lula aus der Politik aussteigt.“

Vielleicht schwant auch dem Präsidenten selbst, dass das mit seiner Nachfolge nicht so einfach sein wird. Neuerdings sagt er gerne: „Mein Nachfolger wird es schwer haben, er will ja schließlich nicht als einer da stehen, der weniger erreicht hat als ein einfacher Metallarbeiter.“ Lula der Größte forever, also?

Montag, 22. September 2008

Ein Fall für‘s Gericht: Sind Affen Menschen?

Megh und Debbie sind drei und vier Jahre alt und meistens fröhlich: Sie wedeln mit allerlei Dingen, rollen auf einem Skateboard durch die Gegend und machen gerne Lärm, um die Aufmerksamkeit der Familie auf sich zu ziehen. Die beiden haben einen 600 Quadratmeter großen Spielplatz für sich, mit Wippen, Kletterseilen, einem Schwimmbad voller Bälle und sogar einem Laptop für Kinder. Sie schlafen elf Stunden am Tag in Einzelbetten, und dann kümmern sich zwei Kindermädchen um die beiden. Putzen ihnen die Zähne und geben ihnen die Flasche mit Kakao oder Babynahrung. Wenn eine der beiden krank ist, schläft Mama Claudia mit im Zimmer. Kurz: Megh und Debbie sind ziemlich verwöhnte Dinger. Kein Wunder, dass ihr Adoptiv-Vater Rubens Forte die beiden nicht hergeben will. Auch nicht, nachdem ein Gericht bereits gegen ihn entscheiden hat.

Rubens Problem: Megh und Debbie sind Affen. Kleine Schimpansinnen, in die sich der Unternehmer in einem Zoo in Fortaleza verliebt hat. Als der Zoo geschlossen werden musste, adoptierte er die Äffinnen und überhäuft sie seitdem mit Aufmerksamkeiten menschlicher Art. Auf dem Boden schlafen? Nichts für die „Mädels“! Sich selbst Nahrung suchen? Unvorstellbar!

Wenn es nach der brasilianischen Umweltschutzorganisation Ibama geht, sollen sie aber genau das demnächst tun: Wie wilde Affen leben. Der Ibama hat zwar das private Wildtiergehege von Rubens genehmigt, aber deswegen soll der seine tierischen Töchter trotzdem nicht behalten dürfen. Grund: Fehler in der Dokumentation, heißt es offiziell von Seiten des Ibama. Inoffiziell sieht das Ganze mehr nach einem Machtkampf aus – einer Art Rache des Ibama, weil Rubens schon den Transport der Schimpansinnen aus Fortaleza im Nordosten bis nach Sao Paulo gegen den Willen der Behörde durchgeführt hatte. Megh und Debbie ist das soweit egal: Sie spielen weiter auf ihren 600 Quadratmetern – bis zur Entscheidung.

Die liegt inzwischen beim Obersten Gerichtshof. Den hat Rubens mangels besserer Einfälle um Habeas Corpus für die beiden angerufen. Weil sie doch in Afrika bitterlich verhungern müssten. Und weil sie wie alle Schimpansen zu mehr als 99 Prozent gleiches Genmaterial besitzen wie wir Menschen. Da muss doch die in der Verfassung garantierte Bewegungsfreiheit auch für sie gelten. Oder?

Juristisch gesehen, scheint es eine einfache Sache. Die Verfassung gilt für menschliche Wesen. Tier gelten im brasilianischen Zivilrecht als Sachen. Und Sachen haben keine verfassungsmäßigen Rechte.

Ex-Präsident José Sarney verweist hingegen auf einen „Präzedenzfall“ mit anderem Urteil: In den 90er Jahren soll der damalige Arbeitsminister Antonio Magri gesagt haben: „Hunde sind auch Menschen“. Auch Internaut „Mau“ ist für die Bewegungsfreiheit der Äffinnen. Er schreibt: “Wo ist das Problem? Nachdem Dantas*, der meiner Meinung nach weniger Würde besitzt als jedes Tier, gleich zweimal Habeas Corpus gewährt bekommen hat, meine ich, dass jedes Wirbeltier das gleiche Recht haben sollte!“

Sollte der Oberste Gerichtshof dagegen entscheiden, hat Rubens bereits seinen nächsten Schritt angekündigt: Er will bis vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ziehen.


*Daniel Dantas, umstrittener Banker, dem unter anderem Geldwäsche und Steuerhinterziehung vorgeworfen werden

Donnerstag, 18. September 2008

Wenn der Macho zärtlich brüllt

Ich beschäftige einen Macho. Der ist so alt wie ich, dünn wie eine Zuckerrohrstange, schlau wie Oskar und ein echter Mann. Er schneidet das Gras für meine Pferde und füttert sie auch, wenn ich mal nicht da bin. Dafür zahle ich ihm eine monatliche Pauschale, bin also in gewisser Weise so etwas wie seine Chefin. Und damit bin ich ein Problem für den Macho. Der doch an sich überlegen zu sein hat. Deswegen weigert mein Helfer sich gelegentlich, Dinge so zu tun, wie ich es ihm erkläre. Füttert lieber zwei Eimer Kraftfutter als einen oder an einem Tag keinen, dafür am nächsten Tag drei. Bisher haben alle Pferde überlebt, ich habe mich an den etwas rüden Umgang gewöhnt und mir eine Art kumpelhaften Ton angewöhnt, den der Macho ganz gut vertragen kann. So weit, so gut.

Bis die Sache mit dem Zaun anfing. Weil der Mann unter permanenter Geldnot leidet, gleichzeitig aber – da einerseits unverheiratet, andererseits aber keinesfalls weibisch – eine Wäscherin, eine Köchin und eine Putzhilfe bezahlen muss, habe ich ihm einen zusätzlichen Auftrag gegeben. Er soll für mich einen Zaun bauen. Ich hatte mir so einen hübschen aus geflochtenem Holz vorgestellt. Erklärte dem Mann das und fuhr auf eine Recherchereise. Als ich zurück kam, war alles anders.

Vom Zaun war nur ein Anfang zu sehen, ein ziemlich improvisiertes Werk aus ineinander geschachtelten, vernagelten und aneinander gebundenen Zweigen verschiedener Dicke und Höhe. Von geflochten konnte keine Rede sein. Von dem Mann keine Spur. Er hinterließ zwar Gras für die Pferde, ließ sich selbst aber nicht blicken. Als ich ihn nach Tagen traf, blökte er statt einer Begrüßung los: „Das ganze Holz zu schneiden ist eine Heidenarbeit, ich habe schon den gesamten Wald durch gekämmt!“ Hm. Angeblökt hatte er mich bislang nicht. Ich schwieg und dachte mir: Das war vermutlich seine Art, zu erklären, warum er unmöglich sein Versprechen einhalten konnte - den Zaun bis zu meiner Rückkehr fertig zu haben. Außerdem, so unterbreitete er mir in kaum weniger harschem Tonfall, sei der Zaun nicht gerade zu ziehen, wie ich das vor hatte. Das Grundstück verliefe nämlich dergestalt, dass eine Ecke auszusparen sei, um die der Zaun im Dreieck herum zu verlaufen habe.

Interessant. Bei genauerer Betrachtung erschloss sich mir mühelos seine Eckenlogik: Durch die angeblich nicht zum Grundstück gehörende Ecke hatten die Nachbarn einen Trampelpfad eingerichtet, den sie anscheinend nicht aufgeben wollten, nur weil das jahrelang leerstehende Haus jetzt von mir bewohnt wurde. Aber was hatte das mit dem Macho zu tun? Wenn ich ihn je mit der Nachbarin kommunizieren sah, brüllte er sie meistens an, konnte also kaum freundschaftliche Gefühle für sie hegen.

Dachte ich. Erst nach Tagen fiel mir auf, dass der Zaun zwar keinen Zentimeter wuchs, der Macho aber jeden Tag mindestens zweimal, meist noch öfter bei mir vorbei kam. Auf dem Weg zur Nachbarin, die er dann ausgiebig anbrüllte. Gestern morgens hingen auf der Wäscheleine der Nachbarin zwei Hemden, die mir bekannt vorkamen. Und gestern abends tönte noch lange ein bekanntes Blöken von nebenan herüber. Endlich habe ich begriffen: Der Mann und die Nachbarin pflegen ein Techtelmechtel. Und wenn ein echter Mann zärtlich ist, dann brüllt er besonders laut. Sogar, wenn er mit mir redet.

Sonntag, 14. September 2008

Vertrauen in den König ohne Krone


Die Politiker sind alle Diebe. Haben viele Brasilianer früher geschimpft. Hätten sie mal nicht machen sollen. Denn jetzt ist es schlimmer geworden.

Wir sind ja wieder mitten im Wahlkampf mit allen dessen Annehmlichkeiten: billige Arbeitskräfte halten Plakatwände oder Flaggen mit den freundlich lächelnden Gesichtern der Kandidaten in die Gegend. Radler, Mopedfahrer und Autos beladen sich mit Lautsprechern, um frohe Botschaften auch in jedes noch so kleine Dorf zu schallen. Die Slogans sind bestechend ähnlich: Batata („Kartoffel“) vom kommunalen Radio wirbt ebenso um das Vertrauen der Wählerschaft, wie Chico aus der Pfingstkirche und Bucho („Bauch“) von den Stränden. Warum sie das verdienen, können sie nicht so recht begründen. Und genau das ist ja das Problem: es gibt nicht viel zu vertrauen. Wären die Brasilianer nicht gezwungen, zu wählen, würde womöglich kaum jemand hingehen, am 5. Oktober.

Zur Auswahl stehen ungefähr 380.000 Kandidaten: Bürgermeister und Abgeordnete wollen sie werden. Darunter etwa der wegen Korruptionsvorwürfen abgetretene Severino Cavalcante. Wie viele Diebe dabei sind, hat bislang keiner gezählt. Wenn man nach der Menge der Korruptionsskandale der letzten Jahre urteilen wollte: vermutlich viele. Außer geschätzten Dieben stehen – und das ist bewiesen – in diesem Jahr reichlich Mörder zur Wahl. Mitgeteilt hat das der Präsident der Wahlgerichtsbarkeit von Rio de Janeiro. Dort seien unter den diesjährigen Kandidaten 100 wegen Mordes verurteilt oder haben einen Menschen getötet. Politiker werden dürfen sie trotzdem. Das ist ihnen erst verboten, wenn sie in allerhöchster Instanz verurteilt sind. Sollte das Verfahren noch laufen sind sie wählbar. Und damit die Verbrecher nicht benachteiligt werden, darf das Gericht die Strafregister der Kandidaten nicht einmal veröffentlichen. Der TRE-Präsident hat also keine Namen genannt. Er wollte eigentlich auch niemanden schocken, mit seinen Worten. Er wollte nur begründen, warum sein Gericht einen Metalldetektor am Eingang braucht.

Angesichts dieser Geschichte scheint es ein echtes Privileg, hier auf dem Dorf zu wohnen, wo nur Bauch, noch Chico oder Kartoffel um unser Vertrauen werben. Vermutlich ist keiner von ihnen ein Mörder.

Außerdem dürfen sogar demokratisch einen Monarchen wählen, wenn wir wollen. Der „Rei“ läuft das ganze Jahr mit einer hübschen goldenen Krone herum, auch wenn er in seiner kleinen Kneipe am Straßenrand bedient. Sein Name ist ihm vom „König der Brillen“ übrig geblieben., als der er vor vielen Jahren Sonnenbrillen am Strand verkaufte. Und jetzt will der Rei in die Politik: „Nao pense duas vez, vote no Rei“, lautet sein etwas schütter gereimter Wahlspruch. Schade ist nur, dass ihm seine Partei den Gebrauch der Krone im Wahlkampf untersagt hat. War den Grünen wohl nicht vertrauensbildend genug, das Symbol der Macht und des Reichtums. Aber kann man einem König ohne Krone vertrauen?

Foto: Ricardo Phebo
 
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