Samstag, 23. Februar 2008

Banale Gedanken zu banalern Morden

Recife liegt beim neuesten Ranking auf Platz eins oder neun, je nachdem wie man zählt. Seit 1981 besetzt die Stadt, in deren Großraum ich wohne, regelmäßig einen der obersten Plätze. Das ist allerdings eher ein Grund zum Weinen als zum Feiern, denn es geht hier um die vom Gesundheitsministerium herausgegebene Statistik zu den brasilianischen Städten mit den meisten Mordfällen. Es weint trotzdem niemand: Mord ist hier etwas ziemlich Banales.

In beinahe acht Jahren Brasilien habe ich meine eigene Erlebnissammlung zur allgegenwärtigen Gewalt: Zuerst erlebte ich, wie bei einem Fest auf dem Dorfplatz Schüsse fielen. Danach konnte ich die halbe Nacht nicht schlafen. Monate später sah ich am selben Dorfplatz in einer Kneipe dabei zu, wie ein paar Meter weiter ein Volltrunkener einen anderen mit einem Revolver bedrohte - wobei seine Hand dermaßen unsicher war, dass das Ding locker ungewollt losgehen und auch mich hätte treffen können. Ich werde nie vergessen, wie der Barbesitzer sich unbewaffnet zwischen die Streithähne stellte und den Revolverheld ruhig aufforderte, nach Hause zu gehen. Machte der tatsächlich. Ich ging wenig später und habe, so weit ich mich erinnern kann, gut geschlafen.

Jahre später hörte ich nachts beim Feiern mit Freunden ein schußähnliches Geräusch ganz in der Nähe und wir witzelten darüber: Da hat bestimmt jemand einen abgeknallt. Am nächsten Morgen erfuhr ich: dem war tatsächlich so. Der Mörder war ein junger Typ, den ich vom Sehen kannte und der mich immer freundlich gegrüßt hatte. Angeblich hat er den anderen erschossen, weil der ihm keine Zigarette schenken wollte. Eine Zeitlang habe ich danach allerlei flüchtige Bekannte beim Grüßen etwas mißtrauisch angesehen: Jeder konnte ja der nächste Mörder sein.

Irgendwann gab sich das Checken wieder. Nicht, weil weniger passierte, eher im Gegenteil: Unbekannte haben den Freund einer Bekannten in einer Kneipe erschossen– vermutlich, weil er irgendwelche Crack-Schulden hatte, ein ehemaliger Nachbar ist an einem Heiligabend abgestochen worden, weil er einen Streit wegen eines rauchenden Feuers angezettelt hatte, ein gerade Volljähriger aus der Nachbarschaft hat einen anderen erschossen, weil beide um den Verkaufserlös eines Schweins stritten, das beiden gehört hatte – und so weiter.

Mich haben dabei mehrere Dinge schockiert: Wie jung Mörder und Opfer meist sind. Wie leicht die Täter offenbar eine Schußwaffe gelangen. Wie banal die Gründe für so einen Mord im Affekt sein können. Und: wie mir selbst solche Nachrichten immer banaler vorkommen, je mehr sie sich häufen. Warum so viel gemordet wird? Ich bin keine Soziologin. Aber Júlio Jacobo Waiselfisz, der Herausgeber einer Studie über die Gewalt im Land, ist einer. Und der sagt: Vierzig Prozent der in Pernambuco Befragten hätten angegeben zu wissen, wo sie sich einen Revolver beschaffen könnten. Und Probleme mit der Waffe zu regeln sei typisch pernambucanisch. Klingt banal, oder?

Eine ander Geschichte ist noch banaler. Beim Untersuchen der Mordberichte ist irgendwem aufgefallen, dass die Bluttaten sich auf bestimmte Faktoren konzentrieren: In immer denselben Vierteln sterben vor allem junge Männer vor allem zwischen 23 und 5 Uhr morgens in oder in der Nähe von Etablissements, die Alkohol ausschenken. Im November 2005 erließ die Regierung Pernambucos das Gesetz „Lei seca“ – eine Art selektive Prohibition: In den ermittelten gewaltreichen Vierteln durfte niemand zwischen 23 und 5 Uhr öffentlich alkoholische Getränke ausschenken. Die Folge: Im Vergleich zum Vorjahr gingen die Gewaltopfer in diesen Gegenden um 43 Prozent zurück.

Ein wunderbarer Erfolg. Eigentlich. Nur manche Alkoholausschenker waren hinterher nicht so glücklich über ihre Verdiensteinbußen. Manche Linke waren auch nicht glücklich und sprachen von „faschistoider Ausgangssperre“. Der nächste Bürgermeister- von der Arbeiterpartei PT - schaffte deswegen das umstrittene Gesetz mit der Begründung wieder ab, es seien davon ungerechterweise nur arme Viertel und damit die arme Bevölkerung betroffen. Das war Ende 2006. Im Januar 2007 sollen die Mordraten in mindestens einem der betroffenen Viertel sofort um 100 Prozent in die Höhe geschnellt sein.

Zwei junge Journalisten unterhalten seit über einem Jahr die Website www.pebodycount.com.br, auf der sie aktuell die Morde im Bundesstaat mitzählen, über Mord-Umstände berichten, Angehörige zu Wort kommen lassen und Handlungsbeispiele gegen die explodierende Gewalt zitieren - etwa aus Kolumbien. Dort hat es die Hauptstadt Bogotá in den letzten Jahren geschafft, von einer der gewalttätigsten Metropolen Südamerikas zur einer der friedlichsten zu werden. Unter anderem durch ein hartes „Lei-Seca“-Gesetz. Was mir dazu einfällt? Schnaps macht Leichen. Ganz banal.

Sonntag, 17. Februar 2008

Respekt für den Präsidenten-Luxus

In letzter Zeit haben sich so einige Minister ungewollt als Luxusliebhaber geoutet – durch das Transparenz-Portal im Internet, in dem ihre Ausgaben für alle Steuerzahler einsehbar waren. Eine parlamentarische Untersuchungskommission soll nun der Sache auf den Grund gehen und nachweisen, wer sich wo und wann zu viel Luxus auf Staatskosten genehmigt hat. So weit, so gut. Aber was ist mit dem Präsidenten? Untersuchung ja, sagt der. Aber mit Grenzen. Wegen der Sicherheit. Und der Privatsphäre. Dürfen nun die Ausgaben des Präsidenten einzeln untersucht werden? Oder beeinträchtigt das dessen Privatsphäre, Sicherheit oder Amtswürde? Auf die Antwort warten die Brasilianer noch.

Ohne die Präsidentenwürde antasten zu wollen, läßt sich immerhin folgendes feststellen: Lula liebt Luxus. Die 7300 Quadratmeter des von Oscar Niemeyer entworfenen privaten Regierungssitzes, dem Palácio da Alvorada, hat er vor seinem Einzug erst mal für umgerechnet 6,4 Millionen Euro renovieren und umgestalten lassen: mehrere Kino- und Konzertsäle, Weinkeller für mindestens 2000 Flaschen, beheiztes Schwimmbad mit Olympiamaßen, Gymnastik- und Massageräume sowie sechs Suiten von mindestens 120 Quadratmetern – jetzt alle nach Geschmack und Vorlieben von Lula und seiner Gattin Marisa gestaltet. Für das Wohl des Päsidenten, seiner Familie und Gästen sorgen auf dem 40-Hektar-Gelände am Ufer des Flusses Paranoá allein 60 Angestellte – darunter ein Küchenchef. Mit dem Präsidenten-Gehalt von weniger als 5000 Euro monatlich ließe sich ein solcher Lebensstil nicht finanzieren.

Muß er auch nicht. Der Inhaber des höchsten Amtes darf sich nicht nur ein Amtsflugzeug mit Dusche, Ehebett, Mini-Intensivstation, zwei Tischen für acht Personen etc. für 56 Millionen US-Dollar anschaffen, er hat auch einen Anspruch auf Kostenübernahme für das persönliche Kabinett und diverse Assistenzen. Ehrlicherweise muß gesagt werden, dass die erste Küchenchefin in die bis dahin von Militärköchen geführte Präsidentenküche schon unter Lulas Vorgänger Einzug hielt. Dennoch: Kein Politiker vor Lula hat die Kabinettskosten so heftig gesteigert wie der aktuelle Präsident Brasiliens - 50 Prozent in drei Jahren. 2006 waren das umgerechnet etwa 140 Millionen Euro, das sind mehr als 12 Millionen pro Monat. Davon werden unter anderem 149 persönliche Assistenten des Staatschefs bezahlt, die alle mehr als 2400 Euro im Monat verdienen – vergleichbar hier etwa mit dem Gehalt von Ingenieuren. Bis Mitte letzten Jahres schafften die Arbeit auch 68 Assistenten, dann erließ der Präsident ein nicht zustimmungspflichtiges Dekret und genehmigte sich 81 persönliche Helfer mehr – fast alle Parteigenossen mit Gewerkschaftshintergrund.

Unter den Kabinetts-Ausgaben finden sich außerdem hohe Summen für nicht näher erläuterte „Werbekosten“ der Regierung, und von den 1,96 Millionen Euro, die das Präsidenten-Sekretariat per Präsidenten-Kreditkarte bezahlt hat, erklären Lulas engste Mitarbeiter 1,92 Millionen lapidar mit: Ausgabegrund geheim. Das ist legitim. Es existiert kein Gesetz, das eine genaue Trennung zwischen Privat- und Amtsausgaben des Präsidenten definieren würde. Geprüft wird vom Rechnungshof – und selbst der findet eine Trennung schwierig: „Die Legitimierung einer bestimmten Ausgabe ergibt sich nicht nur aus ihrem Objekt oder der Höhe der Kosten, sondern aus ihrem Zweck. Es finden sich auf der Liste auch – unter anderen Umständen zweifelhafte -Anschaffungen, wie alkoholische Getränke oder Luxus-Lebensmittel“, so drückte das Ubiratan Aguiar aus. Will sagen: Je nachdem, mit wem und unter welchen Umständen der Chef die importierte Gänseleberpastete verputzt, ist es absolut legal, den Steuerzahler die Rechnung begleichen zu lassen. Meistens tut er das wohl außer Landes; 2007 verbrachte Lula zwei Monate auf 32 Auslandsreisen in 29 Länder. Das kostet. Soll aber die Wirtschaft des Landes auf Trab bringen.

48 Ökonomen kümmern sich ausschliesslich um die Ausgaben des Präsidenten und seiner näheren Umgebung. Sie haben die 20 Morgenmäntel aus ägyptischer Baumwolle, die Lula für seinen Amtsantritt als notwenig erachtete (obwohl Brasilien ebenfalls feinste Baumwolle produziert), ebenso aufgelistet, wie 18 Harley Davidsons, die er für die polizeiliche Präsidenten-Eskorte bestellt hat. Zu den wenigen offen gelegten Errungenschaften gehören zudem mehr als 3000 Teile Geschirr: unter anderem Teller mit Goldrand und goldenen Darstellungen der Säulen des Alvorada-Palastes, sowie mehr als 600 neue Kristallkelche. Der Präsident ist während seiner Amtszeit nicht nur von einheimischen Zigarillos auf feine holländische umgestiegen, er hat sich auch vom Zuckerrohr-Schnaps-Liebhaber zum Weinkenner entwickelt und genießt jetzt gerne mal in italienischen Restaurants einen importierten Tropfen – zu 600 Euro die Flasche. Und einer der Ökonomen, der für die Ausgaben der Präsidentengattin zuständig ist, zählte zwischen Januar und August 2004 mehr als 21.000 Euro monatliche Kosten für die Erste Dame. Wofür? Ist ein Geheimnis. Die Presse spekuliert auf Botox-Behandlungen für sie und ihn, diverse Liftings und eine komplett neue Garderobe.

Natürlich leben auch andere Präsidenten nicht in Sozialwohnungen, tragen Second-Hand-Klamotten oder kaufen beim Discounter ein. Aber niemals in der Geschichte dieses Landes hat ein Oppositionsführer seine politischen Gegner so häufig zur Bescheidenheit aufgerufen wie Lula, als er noch nicht selbst den Schlüssel zum Staatstresor in der Hand hielt. Jetzt hält er Kritik an seinem Lebensstil für Mangel an Respekt. Zu Journalisten, die hartnäckig auf mehr Transparenz drängten, sagte der Staatschef am vergangenen Dienstag knapp: „Die Präsidentschaft ist eine Institution, und die Leute müssen lernen, diese zu respektieren.“

Mittwoch, 13. Februar 2008

Knall die Gefangenen ruhig ab

In Brasilien ist seit dem Film „Tropa de Elite“ das Bope-Fieber ausgebrochen, und dessen Protagonist Hauptmann Nascimento ist der neue Held des Landes. Mit neuerdings erschreckenden Konsequenzen. In den letzten Wochen und Monaten haben Polizisten den Filmsong absingend Verdächtige verprügelt oder sich von den im Film gezeigten Foltermethoden inspirieren lassen. Der bisherige Höhepunkt des Brutalo-Heldenwahns: Der Gouverneur des Bundesstaates Mato Grosso do Sul – weit unten im wilden Süden, wo noch echte Cowboys leben – fordert Polizisten auf: „Ihr könnt ruhig schießen!“.

Losknallen dürfen die Gesetzeshüter nach Meinung André Puccinellis, sobald ein Gefangener auch nur Anzeichen einer gewalttätigen Reaktion zeigt. Anzeichen sind eine Sache der Interpretation, theoretisch könnte also durchaus mal einer drauf gehen, nur weil er sich am Gemächt gekratzt hat. Anlaß des Schießbefehls von oben war allerdings eine ernstere Situation; eine beginnende Gefängnisrevolte im von Puccinelli regierten Bundesstaat. „Toleranz unter Null“, rief da der Gouverneur markig aus. „Sobald einer auch nur Anzeichen einer Reaktion zeigt, dürft ihr Polizisten auf den schießen, das ist ein Befehl des Gouverneurs“.

Natürlich hat die Geschichte von Puccinelli nicht zwingend mit dem Film von José Padilha zu tun, der gerade auf der Berlinale läuft. Aber irgendwie erinnert sie doch an eine Szene, in der die Polizisten der Elitetruppe versuchen, eine Favela für den geplanten Besuch des Papstes im Armenviertel abzusichern, und dabei ungeplant einen womöglich Unschuldigen tödlich treffen: „Der geht auf die Rechnung vom Papst“, sagt darauf Hauptmann Nascimento lapidar. Diverse Sprüche aus dem Film sind bereits Alltagsjargon geworden. In Mato Grosso do Sul könnte der nächste heissen: „Der geht auf die Rechnung vom Gouverneur“.

Wäre ja eine einfache Lösung, bei drohenden Gefängnisrevolten die Häftlinge einfach abzuknallen. Bei der bisher größten Gefängnisrevolte Brasiliens im Jahr 2001 in Sao Paulo haben 28.000 Häftlinge in 29 Anstalten gleichzeitig in 19 Städten rebelliert. Damals gab es 16 Tote. Ginge es nach Puccinelli, hätten es viel mehr sein können. Entlastet das System. Ist aber gegen das Gesetz, das dem Staat eine Sorgepflicht für den Eingesperrten auferlegt. Daran hat der Politiker im Eifer des Moments - und der heimlichen Sehnsucht, ein kleiner Nascimento zu sein? - wohl nicht gedacht. Die Situation in seinem Knast erinnert durchaus an die Probleme, die der Film-Polizeihauptmann Nascimento so kaltblütig angeht: bei einer Visite fanden sich alkoholische Getränke, Prostituierte im Einsatz und Drogen; ein Häftling ist sogar einmal vor laufender TV-Kamera geflohen.

Für den Spruch mit dem Abknallen hat Puccinelli allerdings gleich von der Anwaltskammer einen auf den Deckel bekommen. Später ließ er seine Presseleute deswegen vorsichtshalber erklären, seine Aussage sei als Metapher zu verstehen. Er habe Härte demonstrieren aber keinesfalls zu kriminellen Handlungen auffordern wollen. Hübsche Erklärung. Was würde unser Held Nascimento wohl sagen? Vermutlich: „Bitte um deine Entlassung Null Eins!“

Samstag, 9. Februar 2008

Gleichberechtigung für die Ministerin

Am Freitag vor Karneval ist die Ministerin Matilde Ribeiro zurückgetreten. Wenn auch unter Protest. Weil ja die Vorwürfe angeblich nur Ausdruck von Rassismus waren. Und mit Rassismus kennt sich Matilde aus. Zur Erinnerung: Die Ministerin für die Förderung der Gleichberechtigung der Rassen hatte bereits vor einigen Monaten eine gewisse Berühmtheit erlang, als sie äußerte, es sei eine „ganz normale Reaktion“, wenn Schwarze nicht mit Weißen zusammen leben wollten: „Wer ein Leben lang gegeißelt wurde, ist nicht verpflichtet, den Geißelnden zu mögen“, sagte sie damals wörtlich. Offensichtlich hieß Gleichberechtigung bei ihr zu der Zeit: Her mit dem schwarzen Rassismus!

Eine neue Definition von Gleichberechtigung stand hinter ihrem beleidigten Abtritt kurz vor Karneval. Diesmal forderte die Ministerin – wenn sie das auch nicht so offen aussprach wie die Aufforderung zum Rassismus im letzten Herbst - für sich gleichberechtigtes Prassen im Amt. Es ist ja bekannt, dass Politiker auch hierzulande gelegentlich finanzielle Vorteile aus ihrem Amt ziehen. Umso erstaunlicher eigentlich, dass die Regierung Lula im Jahr 2005 das „Portal der Transparenz“ online stellte (http://www.portaltransparencia.gov.br/), eine Website, auf der sogar Lieschen da Silva nachgucken kann, welcher Minister seine Amts-Kreditkarte (die vor allem zur Begleichung von Reisekosten gedacht ist) für was eingesetzt hat. Ein Hoch auf die Ehrlichkeit der Kreditkarten-Inhaber sollte das werden – nun ja, das hat nicht so richtig geklappt.

Tatsächlich kamen die vielfältigsten Ausgaben auf die PC-Bildschirme. Die Bodyguards des Präsidenten etwa kauften sich ordentlich Gewichte zum Stemmen, ein Minister bezahlte in einer Imbissbude eine Portion Maniokküchlein „Tapioca“ im Wert von etwa 3,50 Euro, Matilde selbst beglich unter anderem eine Kneipenrechnung in der Höhe von 42 Euro und so fort. Matilde meint nun, sie sei vor allem deswegen angegriffen worden, weil sie schwarz sei. Tatsache ist, dass sie von allen Ministern am meisten ausgegeben hat; beinahe 70.000 Euro im vergangenen Jahr – deutlich mehr als etwa der Präsident verdient. Vielleicht versteht sie diesmal unter Gleichberechtigung: Diejenigen, die ein Leben lang gegeißelt worden sind, müssen jetzt besonders viel ausgeben?

Solche simplen Umkehrschlüsse sind riskant. Auch wenn es womöglich wirklich weniger Aufruhr gegeben hätte, wenn eine weiße Ministerin Spitzenreiterin geworden wäre, gibt das der schwarzen Kollegin nicht mehr Abzock-Rechte. Was sämtliche Kollegen sich nun tatsächlich zu schulden kommen lassen haben, soll jetzt eine parlamentarische Kommission untersuchen. Kann noch spannend werden, denn die Lulisten haben sich darauf nur eingelassen, wenn auch die Zeit des ungeliebten Vorgängers mit untersucht wird. Gleichberechtigung mal wieder!

Die große Transparenz ist dadurch leider schon wieder umstritten; es ist die Rede davon, das Portal der Transparenz wieder abzuschalten oder wenigstens besonders prominente Namen daraus zu entfernen. Das wäre wirklich schade. Denn neben den interessanten ministerialen Konsummöglichkeiten (einer hat mal eben mehrere Tausend Euro für die Miete eines Konferenzsaals bezahlt, in den er die Presse lud, um seinen Ruf zu verteidigen) erfährt man darauf ganz nebenbei, was es alles für Minister gibt. Direkt nach Matilde auf Platz zwei im Geldausgeben liegt etwa der Minister für Fischerei. Jawohl, Minister für Fischerei. Außerdem gibt es: ein Ministerium für nationale Integration, eines für Kommunikation, für die Bekämpfung des Hungers, für Städte und eines für langfristige Aktionen. Womöglich ist das auch ein Akt der Gleichberechtigung? Jeder darf Minister sein?

Sonntag, 3. Februar 2008

Verführerische Piraten

Letztens hat mich ein Freund zum Filmegucken eingeladen. So eine Einladung ist hier besonders erfreulich, weil mich stundenlange Busfahrten vom nächsten Kino trennen und ich sämtliche Nicht-Action-DVDs der Dorf-Videothek schon lange kenne. Entsprechend freudig traf ich zur verabredeten Stunde bei Almir ein. Almir kramte stolz in seinem DVD-Regal und zeigte mir, was er für den Abend vorgesehen hatte: „Mein Name ist nicht Johnny“, einen Film nach einer wahren Geschichte über einen Mittelklasse-Sprössling aus Rio, der erst zu einem der größten Drogenhändler wird, in der Knast-Psychiatrie doch noch die Kurve kriegt und heute Musikproduzent ist. Der Film wird in allen Kritiken hochgelobt und ich wollte ihn unbedingt sehen. Nur: Er läuft erst seit wenigen Wochen im Kino und ist noch nicht auf DVD herausgekommen. Woher kam also Almirs Kopie? Almir grinste verlegen. Er habe der Versuchung nicht widerstehen können. Die DVD sei eine Raubkopie (auf Brasilianisch: DVD pirata). Was bliebe ihm denn übrig, wo er doch hier am Ende der Welt in der kulturellen Wüste lebe.

Wie gesagt, ich wollte den Film unbedingt sehen. Wer weiß, ob er nach Karneval noch im Kino läuft. Moral hin, Moral her. Ich schwieg zu dem Thema, wir legten uns ein paar Schokokugeln bereit, gossen uns frischen Graviolasaft ein, und Almir schob die Raub-DVD in den Player.

Auf dem Bildschirm erschien ein zittriges Bild mit seltsamen dunklen Rändern. War das ein Stilmittel? Sollte das Ganze wie ein Amateur-Doku-Drama gefilmt sein? Die Kritiker hatten nichts dergleichen erwähnt. Und was war mit dem Ton los? Waren Almirs Lautsprecher kaputt? Nachdem mein Gastgeber an einigen Kabeln gezupft hatte, schloss er einen Wackelkontakt definitiv aus. Trotzdem blieb der Ton grauenhaft übersteuert, unmöglich, zu verstehen, was gesprochen wurde. Wir konzentrierten uns also um so mehr auf das unscharfe Bild, um den fehlenden Dialog durch die visuellen Informationen zu kompensieren. Dann kippte das Bild plötzlich weg, wurde der ganze Bildschirm schwarz.

Ich hatte mich ja schon vorher leise gefragt, woher diese verdammt frühe Raubkopie herkam, wovon sie kopiert war, wenn es doch noch keine offizielle DVD gab. Jetzt wurde mir alles klar. Der Raubkopierer hatte sich einfach mit seiner Handkamera ins Kino gesetzt und den Film von der Leinwand abgefilmt. Und schwarz war der Bildschirm, weil ihm die Kamera verrutscht war. Vielleicht hatte ihn seine Freundin geküßt. Oder er hatte in die Popcorntüte gegriffen. Auch als das Bild wieder auf die Beine kam, blieb es unscharf, wie verwackelt. Irgendwann versuchte der Hobby-Filmer, wenigstens den schwarzen Rahmen auszuschalten, indem er näher an die Leinwand heranzoomte. Das Ergebnis war so grotesk, dass wir irgendwann nur noch lachen konnten.

Almir schnaufte noch, als er mir erzählte: „Und der Typ, der mir den Film verkauft hat, war sich sicher, einen Stammkunden in mir gewonnen zu haben: Ich bin immer am gleichen Platz, hat er gesagt“. Das war dumm von ihm, denn man kann sogar Raubkopien umtauschen, und genau das hat Almir jetzt vor.

Natürlich ist DVD-Piraterie auch in Brasilien illegal. Gleichzeitig ist dieser illegale Markt eine der größten Wachstumsbranchen des Landes: 2005 wurden zwei Millionen raubkopierte DVDs und CDs beschlagnahmt, 2006 waren es beinahe 7 Millionen, und 2007 sollen es über acht Millionen Stück gewesen sein. Den Kassenschlager des vergangenen Jahres, „Elitetruppe“, der demnächst auf der Berlinale läuft, hatten schon drei Millionen gesehen, bevor er überhaupt in die Kinos kam. Trotzdem brach er in wenigen Monaten sämtliche Eintrittsrekorde. Vielleicht sogar deswegen: Mehr Werbung hatte ein Film selten vor dem offiziellen Start.

An dem Abend bei Almir haben wir dann einen anderen brasilianischen Film gesehen. Im Vorspann lief eine Anti-Piraterie-Kampagne: Vater kommt abends nach Hause und schwenkt stolz eine DVD. „Sohn, guck mal, was ich hier habe – toll, was? Eine brandneue Raubkopie“, sagt er. Darauf der Sohn: “Papa, guck mal meine Mathearbeit, ich hab ne Eins - toll, was? Hab ich alles abgeschrieben!“

Ich fand die Kampagne gar nicht schlecht. Dann hat mir Almir gestanden: auch diese DVD war eine Raubkopie.
 
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