Dienstag, 25. November 2008

Faule Parlamentarier schaffen Inseln des Wohlstands


Schuld ist die Faulheit der Parlamentarier. Natürlich gibt es kleine Dörfer, in einem so großen und so unregelmäßig besiedelten Land wie Brasilien. Santa Cruz in Minas Gerais ist mit seinen drei Quadratkilometern Fläche kleiner als das Universitätsgelände der USP in Sao Paulo. Und Borá in Sao Paulo hat weniger als 800 Einwohner. Beides unabhängige Gemeinden mit eigenem Bürgermeister, Gemeinderat und allem, was dazu gehört. Das Problem liegt woanders. Im Wachstum. Denn das Zwergenwachstum gerät allmählich außer Kontrolle: Gab es 1988 in ganz Brasilien kaum mehr als 4000 Gemeinden, waren es 2000 schon mehr als 5500. Die meisten der neuen haben weniger als 10.000 Einwohner. Weitere 800 Anträge für neue Mini-Gemeinden liegen bereits in den Schubladen.

Vor dem Gesetz sind diese Zwerge in einer Hinsicht gleich gestellt. Egal ob 800 oder 10.000 Einwohner, es fließt die gleiche Mindestsumme Unterstützung in ihre Gemeindekasse: stolze 3,3 Millionen Reais im Jahr. Umgerechnet sind das gut eine Million Euro, die der Bund aus dem FPM - Fundo de Participação dos Municípios schöpft. Den FPM füllen Teile der Einkommenssteuer und einer Steuer auf Industrieprodukte. Je mehr Gemeinden, desto mehr Mindestsummen, ganz einfach. Also, dachten sich ein paar Schlaue Politiker: Schluss mit dem Eingemeinden, im Gegenteil - aus eins mach zwei. Möglich wurde das durch ein vor zwölf Jahren erlassenes Gesetz über die Gründung neuer Gemeinden, das durch konkrete Vorgaben ergänzt werden sollte, die vom Parlament zu verabschieden gewesen wären. Wären, denn seit 1996 sind solche konkreten Vorgaben nicht verabschiedet worden. Statt dessen wurde fröhlich ausgemeindet.

Zum Beispiel im Fall Coqueiro Baixo, im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul. Coqueiro Baixo hat nur 4700 Einwohner und war eigentlich Ortsteil von Nova Bréscia. 1996 wurde der Ortsteil zur eigenen Gemeinde erklärt und damit Empfänger von eigenen drei Millionen. Ebenso die nahe gelegene Siedlung Forquetinha – vormals Teil der Gemeinde Lajeados mit immerhin 70.000 Einwohnern. Seit 2001 ist Forquetinha mit seinen 2100 Einwohnern unabhängig – und Empfänger von drei Millionen im Jahr. Bürgermeister Lauri Gisch (siehe Foto) findet das wunderbar. Er wolle den ganzen Ort in eine Art Luxus-Wohnsiedlung verwandeln, sagte er kürzlich dem Nachrichtenmagazin Veja, „wir sind hier eine Insel des Wohlstands“. Was er nicht sagt: Die Hälfte des Wohlstands stammt aus Steuergeldern des Bundes.

Mit dem hemmungslosen Absahnen könnte demnächst Schluss sein. Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat den faulen Parlamentariern jetzt ein Ultimatum gesetzt: Bis Mai 2009 müssen sie endlich genaue Kriterien festlegen, nach denen neue Gemeinden entstehen dürfen. Ein Vorschlag sieht vor, je nach Region Mindesteinwohnerzahlen festzulegen: Im Norden und Mittleren Westen wären das 5000, im Nordosten 10.000 und im Süden und Südosten sogar 15.000 Einwohner. Damit wäre die Schlaraffenzeit sowohl in Coqueiro Baixo als auch in Forquetinha vorbei.

Falls die Parlamentarier in die Pötte kommen. Richtig sicher scheint der Oberste Gerichtshof darauf nicht zu zählen. Deswegen hat er für den Notfall vor gesorgt: Bleiben die Parrlamentarier trotz des Ultimatums bis Mai tatenlos, sieht der Supremo vor, einfach alle seit 1996 entstandenen Gemeinden wieder von der Landkarte zu radieren. Das trifft zwar auch finanziell vollkommen autarke neue Gemeinden wie Mesquita in Rio de Janeiro, dessen 190.000 Einwohner die Gemeindekasse ganz alleine füllen. Aber vor allem die Schmarotzer auf ihren Inseln des Wohlstands.

Foto: Liane Neves, entnommen aus Veja

Freitag, 21. November 2008

Der schöne Fabio und die Droge


Fabio Assuncao ist hier in Brasilien so etwas wie eine Mischung aus Til Schwaiger und Moritz Bleibtreu. Groß, blond und mit leuchtend blauen Augen, ist er das Mensch gewordene tropische Schönheitsideal für Männer. Ich habe den Super-Star vor Jahren einmal getroffen, als er bei der brasilianischen Variante von Oberammergau den Jesus gab: Er war nett und zugänglich und posierte bereitwillig mit der Pressedame, die mich begleitete und angesichts dieses Traummannes den eigenen – ebenfalls anwesenden - sofort und vollständig vergaß. Soviel zu seiner Wirkung. Damals. Als ich Fabio das letzte Mal sah, trat er in einer der Telenovelas als Held auf – immer noch groß und blond und blauäugig, aber seltsam abgemagert, müde und mit tiefen Schatten unter den Augen. „Der ist aber schnell alt geworden“, dachte ich mir. Jetzt weiß ich es – ebenso wie das restliche Brasilien - besser: Der schöne Fabio ist dem Kokain verfallen.

Die ersten haben das spätestens im Januar dieses Jahres vermutet, als der Schauspieler in Gesellschaft eines bekannten Dealers in Rio erwischt und deswegen zur Aussage gebeten wurde. Familienmitglieder sagten damals aus, Fabio nehme Kokain und sei deswegen in Behandlung. Die soll er abgebrochen haben. Und jetzt liegt am Kiosk eines der großen Nachrichtenmagazine mit der Schlagzeile: „Der Kampf ums Leben“ - ließe sich auch als "Kampf für das Leben" übersetzen. Natürlich geht es um die Droge.

Ziemlich reißerisch. Trotzdem war ich beeindruckt, denn wann spricht schon mal einer der Showstars über seine Suchtprobleme. Bis vor nicht allzu langer Zeit umgab gerade Kokain ja ein Ruf der Droge der Künstler und Intellektuellen, die den Verstand und die Sinne schärfe. Von Abhängigkeit und Verfall war eher selten die Rede. In seiner spektakulären Kokain-Beichte vermarktete Autor Stuckrad-Barre auch die schlimmsten Stunden noch irgendwie medienwirksam. Hierzulande wurde vor ein paar Jahren nach dem Tod der Sängerin Cassia Eller ebenso von Drogen gemunkelt wie schon einst bei Elis Regina. All diese Berichte waren – vergleichbar mit den Bildern einer erschreckend abgemagerten Amy Winehouse - meist purer Sensationalismus, und hatten mit einer Auseinandersetzung mit Drogen im Showgeschäft nichts zu tun. Von Veja konnte man eventuell mehr erwarten.

Pustekuchen. Das Magazin, das sich selbst gerne als Aufklärer, Wärter der Demokratie und überhaupt sehr seriös darstellt, macht keine Ausnahme. Ja, der Mann ist kokainabhängig. Aber ob, wie und wo er dagegen kämpft, erfahren wir gar nicht. Statt dessen eine Reihe seiner Symptome: Dass er Mühe hatte, Text zu lernen, dass er ständig am Set einschlief wegen der Beruhigungsmittel, die er gegen die Koksüberwachheit nahm. Dass er einmal zusammen gebrochen ist, und man ihm schon seit einiger Zeit beim Abnehmen beinahe zusehen konnte. Solange er trotzdem halbwegs funktioniert hat, durfte er weiter arbeiten. Nun ist vorläufig Schluss: Seine Hauptrolle in der Sechs-Uhr-Novela verschwindet flugs aus dem Drehbuch, und der Darsteller ist auf unbestimmt Zeit frei gestellt, um sich behandeln zu lassen. „Wenn er den Kampf gewinnt, könnte das Zeichen setzen“, behauptet der Autor der Veja-Geschichte.

Ob er solche Zeichen überhaupt setzen will, hat den Star anscheinend keiner gefragt. In seiner Presserklärung zum Ausstieg auf Zeit ist weder von Sucht noch von Kokain die Rede. "Gesundheitliche Gründe" gibt er diffus an. Zur Art, Dauer und sonstigen Details der Behandlung: keine Auskünfte. Und weil der Mann beliebt ist, auch bei den Kollegen, will von denen kaum einer was zum Thema sagen. Vielleicht, um ihn zu schützen. Vielleicht, um sich selbst zu schützen, denn wer weiß, ob sich der eine oder die andere nicht regelmäßig mit dem schönen Fabio zum Teco-Teco getroffen hat - wie die Leute es hier nennen, wenn sich Menschen gesellig ein paar Lines reinziehen. Bekanntlich koksen die Wenigsten allein und im Showbiz-Milieu koksen bekanntlich nicht wenige. Aber darüber redet keiner so gerne.

Nicht mal als Inhalt für eine Novela – Brasiliens wichtigste Informations- und Erziehungsplattform - hat Drogensucht bislang eine Chance gehabt: Zu viel Angst haben die Quotenhörigen vor einer Ablehnung des Themas durch das Publikums. Lesbische Liebe, Prostitution, Aids, häusliche Gewalt – alles haben die Zuschauer in Novelas schon gesehen, diskutiert und schließlich geschluckt. Drogen traut ihnen keiner zu. Das bemerkt der Veja-Autor kritisch. Aber seinem eigenen Publikum traut er die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema offensichtlich ebenso wenig zu.

Der schöne Fabio hat seinem Outing im Nachrichten-Magazin bislang nicht widersprochen. Wahrscheinlich hat er Besseres zu tun. Ich hoffe, dass er seinen heimlichen Kampf tatsächlich gewinnt. Und danach Zeichen setzt: Vor allem für die Medien.

Foto: PR

Montag, 17. November 2008

Mama, Sie können mich mal

Letztens bin ich beim Capoeira-Training richtig erschrocken. Hatte der Typ da drüben wirklich mich gemeint? „Ele chamou a senhora para a roda!“, hatte er gesagt; der Lehrer habe mich zum Spielen in die Runde gebeten. Er hatte tatsächlich zu mir gesagt: „a senhora“. Dabei denke ich immer an „die (werte) Dame“, und so alt fühle ich mich nicht mal nach dem Training. Deutscher Denkfehler: weil „a senhora“ eigentlich nur so viel heißt, wie das höflich-respektvolle deutsche „Sie“. Oder?

So richtig sicher bin ich mir über die Bedeutung dieser brasilianischen „Sie“-Formel auch nach mehr als acht Jahren nicht. In meinem ersten Lehrbuch Portugiesisch war „o senhor“ der Polizist und basta. Also habe ich diese Form zunächst aus Faulheit gar nicht gelernt – man kann ja auch andere Berufsgruppen nach dem Weg fragen. Die ersten Jahre kam ich mit meinen dem deutschen „Du“ entsprechenden Varianten „tu“ und „voce“ prima durch, selbst bei Interviews guckte niemand komisch.

Als ich schließlich zur Überzeugung gelangt war, die Brasilianer seien eben das coolere Volk, und bei gelegentlichen Deutschland-Besuchen schon mal versehentlich die Supermarkt-Kassiererin duzte, kam der hinterhältige Rückschlag: Meine beste brasilianische Freundin siezte ihre Mutter. Nicht ständig. Nicht einmal nach einem durchschaubaren Muster, etwa in ernten Situationen. Nein, sie nannte ihre Erzeugerin – im übrigen zweifellos eine Respektperson! – anscheinend nach dem Zufallsprinzip mal „tu“, mal „voce“, mal „ a senhora“. Manchmal auch alles in einem einzigen Satz.

Thomas Strobel hat 2007 über die Höflichkeitsformen im Italienischen und Portugiesischen eine Diplomarbeit geschrieben. Dort heißt es: „Voce wird unter annähernd gesellschaftlich und altersmäßig Gleichgestellten verwendet. Gegenüber höhergestellten sowie älteren Personen ist diese Anrede ausgeschlossen.“ Im bis heute durch koloniale Strukturen geprägten Brasilien bedeutet das: Die jüngere Chefin wird ihren Chauffeur/ihr Hausmädchen/andere Dienstboten immer duzen – auch wenn diese noch so alt sein mögen. „A senhora/o senhor“ wird laut Strobel verwendet, wenn „eine deutliche Distanz zwischen den Gesprächspartnern liegt und der Sprecher ein gewisses Maß an Höflichkeit bzw. Achtung ausdrücken will.“

Liegt also zwischen meiner Freundin und ihrer Mutter eine deutliche Distanz? Und warum muss ich ihrer Mutter - deutlich älter als ich – nicht die gleiche Achtung erweisen wie sie?

Längst benutze natürlich auch ich sämtliche Höflichkeitsformen - nach meiner privaten und womöglich empörend falschen Höflichkeitshierarchie: „Tu“ verwende ich äußerst selten bei guten Freunden, denn es ist hier im Nordosten eher unüblich. „Voce“ geht für fast alle. Außer Polizisten, Interviewpartner, Methusalems, Beamte der Visabehörde – und meine beste Freundin, wenn sie mich ärgert. Dann nenne ich sie „a senhora“ – um die momentane deutliche Distanz zwischen uns zu betonen.

Nachdem ich erschöpft aus der Roda komme, frage ich den Mann, der zwar jünger ist als ich, aber der eindeutig bessere Capoeirista und damit zum einen deutlich distanziert und zum anderen fast eine Respektperson, wie er das gemeint hat, mit dem „a senhora“. „Ach“, sagt er, „ich arbeite in einem Hotel. Und mein Chef dort findet, ich könne die Gäste nicht einfach alle duzen, das kommt nicht gut an. Also habe ich mir angewöhnt, grundsätzlich alle Leute zu siezen - außer meinen engen Freunden.“ Ich bin also in bester Gesellschaft - offensichtlich wissen auch die Brasilianer nicht immer so genau, was sich bei ihnen sprachlich gehört.

Sogar meinem Nachbarssohn, ständig unter der Knute seiner strengen Adoptivmutter, die ihm gerne auch mal einen mit dem Gürtel überzieht, ist letztens ein Ausrutscher passiert. „Wissen Sie was, Mama“, hat er gebrüllt, „Sie können mich mal!“.

Donnerstag, 13. November 2008

Eine Alliierte gegen den brüllenden Pastor


Jeder dritte Brasilianer hat ein Hörproblem. Und jeder dritte dieser Fehlhörigen hat sein Problem, weil er zu viel Lärm ausgesetzt war. Wundert mich nicht. Die Mehrheit der Brasilianer kennt das Wort Lärmbelästigung nicht einmal. Oder wie lässt es sich sonst erklären, dass Werbung hier vor allem mit Sound-Systems in Volkes Ohren gedröhnt wird? So ein brasilianisches Sound-System kann ein Lkw, ein Pick-Up, ein Pkw, ein Moped oder auch nur ein Fahrrad mit aufmontierten Lautsprechern sein – manche durchaus hübsch anzusehen, aber alle durchdringend.

Angesichts dieses Brauchs scheint es nur logisch, dass auch die Pastoren sich elektronischer Verstärkung bedienen, wenn sie das Wort Gottes predigen. Und das tun sie. Alle. Aus dem nächstgelegenen Gotteshaus schallen mehrmals wöchentlich wütende Tiraden in mein ansonsten eher ruhig gelegenes Heim. Das Schimpfen scheint den Gläubigen zu gefallen, denn je weiter die Veranstaltung fort geschritten, desto mehr lassen sich zu inbrünstigem Stöhnen hinreißen, das gelegentlich nahezu orgiastisch klingt. Ein anderes Gläubigengrüppchen versammelt sich jeden Freitagabend auf dem Bürgersteig vor dem Papierwarenladen. Natürlich mit einer Art Megafon und Verstärker. Dort singen sie dann unter Nichtachtung sämtlicher musikalischer Grundregeln ihre Lieder und brüllen ihre Predigten. Hier im Dorf begrüßen sich die Leute mit „Sei im Frieden des Herrn“ und stimmen einander zu, indem sie „Amen“ sagen. Kurz: Die Sektenmitglieder sind in der Überzahl.

Das scheint ihnen nicht zu reichen. Am vergangenen Wochenende starteten sie eine Großattacke auf die letzten nicht-missionierten Schäfchen. Donnerstag kurvte ganztägig ein Sound-System durch die Handvoll Straßen und kündete von dem kommenden „Event des Glaubens“. Um 19 Uhr war es dann soweit. Für alle, die sich dafür interessierten und für alle anderen auch. Der Pastor hatte das Fußballfeld gemietet, eine Großleinwand aufgestellt und das Sound-System war auch im Einsatz. Jetzt beschallte es das gesamte Dorf in einer Lautstärke, die in jeder normalen Disco übertrieben wirken würde. Als bekehrte Mitglieder der Sekten-Gemeinde in klagendem Ton von ihrer Umkehr und der Rettung aus dem Sünderleben berichteten, drehte der Pastor den Lautstärkeregler bis zum Anschlag. Bei mir in der Küche wackelten die Teller im Regal. Zum Glück ist donnerstags Capoeira-Training, und ich konnte den Missionseifer hinter mir lassen.

Am Freitag kam ich gerade am Fußballplatz vorbei, als die Techniker und der Hirte sich mit offensiven Soundchecks offensichtlich darauf vorbereiteten, abends noch einen drauf zu legen. Vorsichtig näherte ich mich den Männern, begrüßte den Pastor und erklärte ihm meine missliche Lage: Obwohl ich gute 200 Meter Luftlinie vom Event entfernt wohne, kann ich während seiner Darbietungen nicht einmal mein eigenes Telefon läuten hören. Ob er eventuell die Güte besäße, abends ein kleines wenig leiser zu drehen? Die Antwort des Gottesmannes war klar und kategorisch: ER könne überhaupt niemanden stören, weil Gottes Wort nie störe. Und er habe extra ein besonders wattstarkes Sound System gemietet, um besonders aufdrehen zu können. Kurz: ER werde seine Arbeit machen, und wenn mir das nicht passe, könne ich ja zur Polizei gehen. Ich bedankte mich für sein Verständnis und verabschiedete mich mit einem bei Sektierern beliebten Spruch: „Que Deus lhe page em dobro“ (auf dass Gott dir doppelt zurückzahle, was du mir heute gegeben hast).

Später rief ich bei der Polizei an. „Falls ein Einsatzwagen frei ist, werden wir mal vor Ort nachsehen“, sagte die freundliche Callcenter-Mitarbeiterin Gisele zu mir. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen: Vor ein paar Wochen musste eine Freundin eine auf frischer Tat ertappte Diebin in ihrer Strandkneipe laufen lassen, weil kein Einsatzwagen frei war. Würde ich jetzt der Kriminalität Vorschub leisten wegen meiner empfindlichen Ohren? Das schlechte Gewissen hätte ich mir sparen können. Es kam kein Einsatzwagen. Auch am dritten Abend nicht, an dem ich versuchte, mit Favela-Reggae bis zum Anschlag gegen die Bekehrungsbekenntnisse anzudröhnen.

Gestern sprach mich eine Dame auf der Straße an und fragte mich schüchtern, ob ich die Gottesdienste auf offener Straße auch so lästig fände. Dabei drehte sie sich mehrmals verstohlen um, als wolle sie sich vergewissern, dass auch niemand mithörte. Kurz und erleichternd tauschten wir unsere Meinung über den brüllenden Pastor aus. Da fiel mir ein: Im letzten Sommer hatten im Nachbarviertel eine Menge Kneipenwirte empfindliche Geldstrafen zahlen müssen, weil sie die Musik zu laut gedreht hatten. Dauernd waren Leute mit Dezibel-Messgeräten unterwegs gewesen. Die wären unsere Retter!

Am selben Abend wandte ich mich vorsichtig an einen Uniformierten der örtlichen Polizei, der nicht aussah, als sei er selbst ein Sektierer, aber man weiß ja nie. Er drückte mir einen Infozettel in die Hand, auf dem stand: Poluicao sonora – Lärmbelästigung. Dort war ausführlich erklärt, welchen Schaden übertriebener Lärm anrichten könne. Und ganz unten stand: Helfen Sie uns, melden Sie Lärmbelästigung. Es folgte eine Telefonnummer. Heute werde ich meiner Alliierten diese Nummer weiter geben. Soll er nur kommen, der Herr Pastor!

Montag, 10. November 2008

Eine Nachfolgerin für Bito, den berühmten Bock


Ernsthaft begleitete er jeden Trauerzug bis zum Friedhof. Fröhlich schritt er vor jedem Karnevalsumzug. Gemessen führte er militärische oder musikalische Prozessionen an. Gerne ließ er sich mit einem Schälchen Milch oder Keksen verwöhnen. Nachmittags hatte er eine feste Verabredung mit den Busfahreren der Stadt, die ihm Tüten voller Bonbons mitbrachten. So wurde der Ziegenbock bald zum berühmtesten Einwohner von Riachão do Dantas im Nordostbundesstaat Sergipe. Bito töten? „Das ging dann einfach nicht mehr“, erklärt sein Besitzer Joélio. Eigentlich hatte er den Ziegenbock gekauft, um ihn erst zu mästen und dann zu Buchada zu verarbeiten, dem typischen Gericht des brasilianischen Nordostens, bei dem im Ziegenmagen die Nieren, Leber, Zunge, Herz und Därme des Tieres gekocht werden.

Dann kam alles anders. Statt Gras zu fressen, wie andere Ziegen, schlürfte Bito elegant Milch und knabberte feinsten Mais aus der Futtermittelhandlung seines Besitzers. Mit Sprüngen und Kapriolen forderte er Passanten und Kunden zum Spiel auf und begleitete so manchen auf dem Heimweg. Als 1998 eine richterliche Verfügung freilaufende Tiere auf den Straßen von Riachão untersagte, trat Bito in den Hungerstreik, und die ganze Stadt trauerte. Bis die Richterin davon hörte und persönlich ausrichten ließ: Bode Bito sei frei zu lassen.

Trotzt seiner ständigen Schlemmereien erreichte der Ziegenbock mit den weißen Schlappohren das hohe Alter von 18 Jahren. Zuletzt konnte er sich nicht mehr aufrichten, und dann starb er. Das war im Jahr 2007 und es ließ seine ungezählten Freunde tief traurig zurück. „Bito ist tot, aber seine Geschichte lebt für immer“, sagte der Gemeinderatsabgeordnete José Edson de Almeida, und beantragte ein Denkmal für Bito. So wurde der berühmte Bito zum Kunstwerk – statt zu Buchada: Der Bürgermeister bestellte eine Beton-Skulptur für umgerechnet mehr als 1200 Euro.

Bita kostete nur einen Bruchteil dieses Preises, und zwar lebendig. Die Ziege lebt in einem 2000-Einwohner-Dorf ebenfalls in Sergipe und hätte beinahe das gleiche Schicksal erlitten, das auch Bito zugedacht gewesen war. Doch dann ging Dona Joana sammeln, weil sie das cremefarbene Tier zu schade für den Kochtopf fand. Mancher der Bewohner von Triunfo konnte nur 20 Cent geben, mancher 40 – viel hatte keiner. Aber irgendwann kamen die umgerechnet 40 Euro zusammen, die ihr Besitzer verlangte. Seitdem ist Bibita Kollektivbesitz von Triunfo, spaziert – ganz wie ihr Namensvetter - in aller Seelenruhe durch die Straßen, begleitet alle Prozessionen und legt sich bei Beerdigungen gerne mal trauernd neben den Sarg. Außerdem geht Bibita in jede Zirkusvorstellung vom Triunfo. Kaum beginnt die Vorstellung, trippelt sie selbstverständlich ins Zelt hinein, klettert auf eine der Sitzbänke ganz oben und guckt sich die Vorstellung an. Erst wenn die Clowns vorbei sind geht sie wieder.

Letztens hat einer versucht, Bibita zu kaufen. Der war extra aus Riachão do Dantas gekommen. Weil dort kein Bock mehr die Trauerzüge begleitet, die Statue keine Bonbons frisst und überhaupt der Bode Bito allen arg fehlt. Bibita wäre doch eine prima Nachfolgerin für Bito, fand der Mann. Aber keiner der vielen Besitzer von Bibita war an seinem Geld interessiert.

Foto: ohne Angaben, übernommen aus dem Blog Meu Papagaio

Freitag, 7. November 2008

Maria da Penha konnte Ananda nicht retten

Maria da Penha ist heute 62 Jahre alt und seit beinahe einem halben Jahrhundert querschnittsgelähmt. Eigentlich hatte ihr Ehemann sie umbringen wollen, aber der Schuss ging daneben. Das war 1983, und in einem zweiten Anlauf im gleichen Jahr versuchte der Universitätsprofessor, seine Gattin durch einen Stromschlag und Ertrinken zu töten. Maria überlebte auch diesen Mordversuch, zeigte ihren Mann an und wartete, was passieren würde. Acht Jahre später wurde er zu acht Jahren Haft verurteilt, weitere 11 Jahre später endlich eingesperrt. Zwei Jahre lang.

Als er schon zwei Jahre wieder in Freiheit lebte, wurde 2006 das Gesetz Nummer 11.340 verabschiedet. Es heißt „Maria da Penha“ und sieht strengere Strafen und Maßnahmen im Fall familiärer Gewalt vor. Präventivhaft für aggressive Ehemänner ist seitdem ebenso möglich wie der Hinauswurf des gewalttätigen Mannes aus dem ehelichen Heim und die Verhängung von Sicherheitsabstand. Bereits am ersten Tag, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, wurde ein Mann festgenommen, der seine Ex-Frau erwürgen wollte.

Brasilien liegt weit vorne in der Gewalt gegen Frauen. Und der Bundesstaat Pernambuco liegt ganz vorn innerhalb Brasiliens. Zwischen 1.1. und 30.9.2008 hat die Leiterin des Frauenforums Pernambuco 205 Mordfälle an Frauen gezählt: nahezu eine für jeden Tag. Vielleicht hat Maria da Penha deswegen hier in Recife im letzten Jahr einen Verdienstorden bekommen, weil sie vom Rollstuhl aus gegen Gewalt an Frauen kämpft. Besonders häufig vergreifen sich die hiesigen Männer an Frauen, von denen sie bereits getrennt sind. Nach dem Motto: Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie auch kein anderer haben.

Anfang September haben hier im Bundesstaat der Gouverneur und die Frauenministerin Brasiliens einen nationalen Pakt zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet, in dessen Rahmen umgerechnet mehr als eine Million Euro für Anti-Gewalt-Projekte in den Bundesstaat fließen sollen. Ende September gingen mit dem gleichen Ziel 100 Frauen im ländlichen Goiana auf die Straße. Am 5. November lud die Frauenzeitschrift Claudia Maria da Penha zum Forum der brasilianischen Frau nach Recife, weil „es hier eine Tradition gibt, häusliche Gewalt zu bekämpfen.“ Am 6. November rollte die Namensgeberin des Gesetzes zu einer Feierlichkeit in der Anwaltskammer in Recife: anlässlich des zweiten Geburtstags des Gesetzes soll eine Briefmarke mit ihrem Porträt gedruckt werden.

So richtig euphorisch konnte die Stimmung nicht werden auf der Feier. Denn am Vortag, dem 5. November, während die Chefredakteurin von Claudia den Einsatz der Pernambucanerinnen lobte, wurde sechzig Kilometer entfernt Ananda do Ò beerdigt. Die 19Jährige wurde am 4. November von ihrem Ex-Mann durch einen Kopfschuss getötet. Obwohl sie bereits zwei Monate vorher auf dem örtlichen Polizeirevier um dringenden Schutz gebeten hatte. Obwohl sie danach noch mehrmals die Polizei aufsuchte, zuletzt an ihrem Todestag.

Laut Gesetz hat der Richter 48 Stunden Zeit, um über Anträge auf Schutz bei häuslicher Gewalt zu entscheiden. Am 11. September leitete der Polizeikommissar Anandas Gesuch weiter. Am 21. Oktober hat der Richter laut Angasben des Gerichts entschieden: der Ex dürfe sich Ananda oder ihrer Familie nicht auf weniger als 200 Meter nähern oder auf andere Weise Kontakt zu ihr aufnehmen. Mitgeteilt hat der Richter das weder Ananda noch dem Mann.

Am 2. November tauchte der Ex bei Ananda auf, ohne zu wissen, dass ihn das ins Gefängnis hätte bringen können, wenn alles richtig gelaufen wäre. So aber gerieten die beiden an der Haustür in einen handgreiflichen Streit, bis der Ex schließlich verschwand, Stunden später bewaffnet wieder kam und seine Ex in den Kopf schoss. Ananda hatte am nächsten Tag mit den vorgeschriebenen drei Zeugen auf der Polizeiwache ihre Bedrohung beweisen wollen. Sie starb auf der Stelle. Als ihre Nachbarn die Schüsse hörten und begriffen, was geschehen war, wollten sie den Täter lynchen. Als er sich einschloss, steckten sie ersatzweise sein Auto in Brand. Zu Anandas Beerdigung kamen 300 Menschen.

Wir haben unsere Pflicht getan, sagt der Polizeikommissar. Wir auch, sagt das Gericht. Klingt beinahe so, als rechneten die Bürokraten damit, dass alle so geduldig warten können, wie Maria da Penha selbst. Ananda hat nicht so viel Zeit gehabt - Maria da Penha hat sie nicht retten können.

Fotos: Domingos Tadeu (oben) und Folha de Pernambuco (unten)

Montag, 3. November 2008

Der Präsident trägt wieder Falten


„Das erste Opfer der Finanzkrise war das Botox.“ So titelte die Zeitschrift Piaui in ihrer neuesten Ausgabe. Danach schrieb Marcos Sá Corréa weiter: „Die Krise der amerikanischen Hypotheken kam am 21. Oktober in Brasilien an – mit winzigen Wellen. Drei milimeterfeine Ondulationen, um genauer zu sein. Sie waren so flach, dass sie nicht mal bis in die Zeotungen schwappen würden – hätten sie nicht die Stirn des Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva in Runzeln gelegt.

Lula sprach in diesem Moment vor der “Sociedade Brasileira para o Progresso da Ciência” über die weltweite Krise. Er gab behutsame Erklärungen zum Finanz-Tsunami, erklärte den Zuhörern, er sähe sich womöglich gezwungen sich ins eigene Fleisch zu schneiden, falls die Welle die Zentralbank voll erwischt. Wie immer war er dabei von Reportern, Kameramännern und Fotografen umgeben, die die Szene registrierten.

Die Worte des Präsidenten waren vielleicht nichts Besonderes. Aber seine Stirn erschien eloquent, von Sorgenfalten beschwert, Falten der Art, die die Augenbrauen hochziehen, die die Haut in Falten legen und die Bedeutung jedes beliebigen Themas unterstreichen, selbst bei Kneipengesprächen. Allerdings sind sie nur unter normalen Leuten normal. Unter Politikern und Berühmtheiten werden sie immer seltener.“ (…)

Tatsächlich hatte Lula seine Sorglosigkeit jahrelang mit einer babyglatten Stirn illustriert. In Zeitungen stand vor drei Jahren undementiert zu lesen, dass die Präsidenten-Hautärztin das Nervengift Botox bei Hausbesuchen spritzte. Kommentare gab es dazu keine, wozu auch. Macht ja jeder. Hier in Brasilien sowieso, aber auch McCain und wie sie sonst alle heißen. Lula hatte sich rundherum an sein neues Leben gewöhnt, mit Präsidentenflieger, Maßanzügen, edlen Weinen und eben Botox. Sorgenfalten hätten auch nicht zu einem gepasst, der alles im Griff hat.

Und jetzt hat er das Nachlassen der Wirkung des Nervengifts genau kalkuliert, damit die Zeichen seiner Besorgnis auch im richtigen Moment auftauchen. Das kann nichts anderes bedeuten als: Jetzt ist die Krise da. Wir sollten uns auf das Schlimmste gefasst machen: Der Präsident trägt wieder Falten.

*Piaui, das sollte an dieser Stelle auch noch gesagt werden, ist eine freche und frische journalistische Glanzleistung, die sich in dieser Art in Deutschland leider kein Verlag traut: großformatig wie Lettre aber weniger abgehoben, lange Reportagen über bis zu 10 Seiten, Porträts, für die Reporter die Porträtierten tagelang begleiten, Illustrationen, Comics, Gedichte, Fiktion und das beste „Vermischte“, was ich je in einem Printmedium gesehen habe.


Foto: Sebastiao Moreira, agencia EFE 2008, aus Piaui No. 26, Nov. 2008
 
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