Donnerstag, 31. Dezember 2009

Glücklich ins neue Jahr mit Lula


Hinter vorgehaltenen Händen und verschlossenen Türen wird zurzeit gemunkelt, dass PSDB-Präsidentschaftskandidat José Serra sich mit der Grünen Marina Silva zusammen tun könnte, um die Wahlen im nächsten Jahr auch ganz bestimmt zu gewinnen. Weil doch Lulas Lieblingskandidatin Dilma Rousseff zwar langsam die Nase voll hat von dem ganzen Imagegetue („Ich werde jetzt einfach ich selbst sein“, soll sie kürzlich angekündigt haben), aber bei den Wählern immer noch nicht so recht beliebt ist. Abwarten. Noch hat offiziell nicht mal der Wahlkampf begonnen. Noch bleibt uns unser Lula erhalten.

Und weil unser Präsident, der das Land so wunderbar optimistisch durch die Krise geführt hat – und nebenbei die Staatsverschuldung in die Trillionen getrieben -, im Ausland beinahe so beliebt ist wie Obama, aber selten direkt zitiert wird, will ich heute den Deutschen unter den Lesern eine kleine Sammlung an Präsidentensprüchen aus dem heute zu Ende gehenden Jahr präsentieren. Zusammengestellt von der Zeitschrift Veja, frei übersetzt – ohne jede Haftung – von mir.

„Die Reichen brauchen uns nicht sehr. Den Müll einzusammeln reicht schon.“

"Warum ist diese Klimafrage heikel? Weil die Welt rund ist. Wenn die Welt quadratisch oder rechteckig wäre…"

"Diese Krise wurde nicht von einem Schwarzen, Indianer oder Armen ausgelöst. Diese Krise wurde von Weißen mit blauen Augen gemacht."

"Es gelingt mir nicht, viele Seiten an einem Tag zu lesen, das macht mich schläfrig. Ich sehe TV, je mehr Unsinn, desto besser."

"Es gibt Leute, die meinen Optimismus nicht mögen, aber ich bin Corinthians-Fan, katholisch, Brasilianer und außerdem Präsident dieses Landes. Wie könnte ich da nicht optimistisch sein?"

In diesem Sinne: Gehen wir mit Lula optimistisch ins nächste Jahr!

Karikatur gesehen bei www.aindamelhor.com

Sonntag, 20. Dezember 2009

Das Glück im Jammerthal


Tatsächlich bin ich im Jammerthal gar nicht gewesen. Nur in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno. Aber das macht wenig Unterschied: es sind allesamt winzig kleine Gemeinden im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Und in allen leben Nachkommen deutscher Einwanderer aus dem Hunsrück. Sie sprechen bis heute einen Dialekt, den sie als Hunsrückisch bezeichnen. Hochdeutsch lernen manche der Kinder neuerdings in der Schule. Portugiesisch lernen die meisten auch erst in der Schule – und sprechen es zeitlebens mit einem harten deutschen Akzent.

Walachai – ganz weit weg also, nannte der erste Einwanderer damals den von ihm gegründeten Ort, weil er eben ganz weit weg war – von der Küste, von den Städten. Von der globalen Marktwirtschaft sind die hunsrückischen Dörfer bis heute ziemlich weit weg. Und das ist gut so. Die Einwohner bearbeiten den Boden der vielen Hügel mit Gerätschaften wie aus dem Mittelalter: Pflügen mit Ochsen, fahren mit Ochsenkarren, dreschen das Bohnenstroh mit dem Dreschpflegel, melken von Hand und stapfen die Butter im Budderfass. Klingt ganz schön rückständig. Dabei haben die Jammerthaler, die Walachaier, die Batatenthaler und die Frankenthaler uns einiges voraus.

Damals, als die 70,80 Kilometer, die die Gemeinden heute von der Großstadt Porto Alegre trennen, noch eine lange Reise erforderten, haben die Einwanderer sich angewöhnt, alles selbst zu machen. Reis zu pflanzen und Kartoffeln, Bohnen und Gurken. Sie sägten die Bretter selbst, aus denen sie ihre Häuser auf einem Fundament aus selbst gesammelten Feldsteinen errichteten. Sie machten ihren Käse und ihre Butter selbst und ließen Zitronensaft mit Zucker und Wasser zu Spritzbier vergären. Sie rollten ihren Tabak selbst, den sie in getrockneten Maisblättern zum Palheiro rollten, und schmiedeten ihre Pflugmesser ebenso archaisch auf dem offenen Feuer wie die eiserenen Beschläge der Ochsenkarren. Jeder hatte seine eigene Trinkwasserquelle oder wenigstens einen sauberen Bach im Garten. Geld hatten die meisten keines: Sie brauchten auch selten welches.

Wie die meisten Eltern denken auch manche Walachaier, ihre Kinder sollen es einmal besser haben. Mit „besser“ meinen sie „fortschrittlicher“. Deswegen zog Vater Zilles mit seinen Töchtern irgendwann in die Stadt. Und die kleine Rejane weinte, weil sie Heimweh hatte und von den Klassenkameraden als „Kartoffeldeutsche“ gehänselt wurde. Später wurde Rejane Zilles Schauspielerin im großen Rio de Janeiro. Und noch später kehrte sie mit einem Filmteam zurück in ihr Dorf Walachai. Wo ihr Onkel Lídio immer noch mit dem Ochsenkarren aufs Feld fährt. Wo die Menschen immer noch wenig Geld haben. Und trotzdem ganz unglaublich glücklich aussehen.

Durch eine Verkettung von Umständen habe ich Rejane in Rio kennengerlernt, als die Dreharbeiten gerade abgeschlossen waren. Und jetzt, zwei Jahre später, bin ich mit ihr in den Süden gefahren, zur Premiere ihres Dokumentarfilms mit dem Titel „Walachai“. Ein Filmkritiker aus Porto Alegre fand, Rejane habe einen übertrieben dramatischen Soundtrack gewählt - vermutlich meinte er damit den ständigen Vogelgesang, der die Bilder untermalt. Bei meiner Reise habe ich gemerkt: Der ist nicht gewählt. Der ist echt. Den Film kannte ich schon, weil ich vor ein paar Monaten die Untertitel ins Deutsche übersetzt habe. Beim ersten Mal sind mir beinahe die Tränen gekommen, als ich die Menschen gesehen habe, in ihrer so gar nicht zeitgemäßen Unverstelltheit. Jetzt, in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno, habe ich die Personen aus dem Film live erlebt. Habe mit Cousine Silvane Zwiebeln geerntet und mit Tio Lídio gepflügt. Habe der alten Bertha dabei zugesehen, wie sie die Glocken der Dorfkirche läutet, und habe mit der jungen Inadia Kartoffelkichelche gegessen, die sie auf dem Holzofen in selbstgemachtem Schmalz gebraten hat.

Es macht nichts., dass ich das Jammerthal dabei nicht kennengelernt habe. Das unwahrscheinliche Glück der Menschen in den einsamen Tälern habe ich auch so erlebt. Ich mag gar nicht versuchen, es zu erklären. Nur staunen und dankbar sein, dass ich es kennenlernen durfte. Silvane sagt: „Ich werde hier nie weggehen. Höchstens im Sarg.“ Recht hat sie.

PS. Über meine Reise wird – irgendwann in 2010 – ein Text im Reiseteil der Süddeutschen Zeitung erscheinen. Der Dokumentarfilm „Walachai“ von Rejane Zilles ist bei diversen Filmfesten in Deutschland eingeschrieben, bislang ist noch nicht entschieden, ob und wo er laufen wird.

fotos: wollowski (oben: Onkel Lídio mit seinem Ochsengespann; mitte: Silvane beim Zwiebeln Ernten; unten: seit 35 Jahren glücklich verheiratet: Cleci und Werno Hoffmann)

Mittwoch, 25. November 2009

Schon wieder...

... eine Pause. Bin bei unseren europäischen Nachbarn - in Französisch Guyana - unterwegs. Wenn ich heil aus der grünen Hölle zurück komme, melde ich mich Mitte Dezember wieder. Und hoffe, dass bis dahin weder Lina Dominanski, noch die Fledermaus die Gewalt über mein Haus übernommen haben. Dazu dann mehr.

Sonntag, 22. November 2009

Zeit ist Geld

Manchmal funktioniert das öffentliche brasilianische Gesundheitssystem hervorragend. Zum Beispiel fahre ich nächste Woche nach Französisch Guyana, und für die Einreise ist eine Gelbfieberimpfung vorgeschrieben. Also habe ich bei unserer dörflichen Gesundheitsstation angerufen, um höflich anzufragen, wo ich so eine Impfung bekommen kann. Schon am nächsten Tag hat mich eine freundliche Dame in der Gesundheitsstation des nächsten Orts geimpft. Vollkommen kostenlos, ich musste nur mein Flugticket in die gefährdete Region vorlegen. Nicht einmal warten musste ich.

Das mag daran liegen, dass nicht so viele Menschen Gelbfieber-Impfungen brauchen. Normal ist eher, was ich erlebt habe, als ich einen Allergietest machen wollte. Zuerst saß ich auf der Wartebank hier im Dorf, bis der Allgemeinarzt mich vorließ. Der plauderte recht nett über seine Erfahrungen mit deutscher Literatur, empfahl mir ein gaaaanz neues Medikament und schrieb mir schließlich den Überweisungsschein zum Hautarzt im nächsten Ort. Zu dem konnte ich damit aber nicht etwa einfach gehen. Zuerst musste ich im Morgengrauen in einer weiteren Schlange ausharren, um unter Vorlage des Überweisungsscheins einen Termin zu ergattern. Dieser Termin lag etwa zwei Monate nach dem ersten Arztbesuch, eine Stunde Busfahrt von meinem Dorf entfernt.

Ich hatte an dem Tag ziemliches Glück, denn von den mehreren Dutzend Menschen, die mit mir warteten, tat das die Hälfte umsonst: die Psychologin, die ebenfalls Patienten empfangen sollte, war krank und konnte nicht kommen. Unsere Dermatologin hingegen war da. „Sag nicht immer Dermatologin“, tadelte der Rezeptionsfachmann seine offensichtlich neue Kollegin, „das versteht hier niemand. Sag, die Ärztin für die Hautsachen“. Nach drei Stunden saß ich vor der Ärztin für die Hautsachen. In einem Zimmer, das an einen Klassenraum für Zwerge erinnerte. Die Dermatologin war jung, lächelte freundlich und sah lange auf meinen Schein. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf und sagte: „Allergietests mache ich nicht.“ Da müsse ich ins Allergie-Zentrum in Recife gehen.

Dafür brauchte ich einen neuen Schein. Der freundliche Allgemeinarzt empfahl mir ein weiteres uuuuuunfehlbares Medikament. Dann schrieb er einen neuen Schein. Die Krankenschwester riet mir, ich solle mit dem ersten Bus morgens um vier losfahren, um rechtzeitig im Allergiezentrum anzukommen. Nein, ich müsse vorher keinen Termin machen, man würde da gleich behandelt. Also gut. Um vier ist es noch kalt und dunkel. Bis ich in Recife ankam, war es hell und halb sieben. Die Schlange im Allergiezentrum war ermutigend kurz. Der Wärter an der Tür blickte auf meinen Zettel und sagte: „Für heute sind alle Termine vergeben, aber da Sie nicht aus dem Stadtbereich Recife kommen, müssen Sie ohnehin nächste Woche wieder kommen, wenn alle Auswärtigen-Termine für den Dezember vergeben werden.“ Um am gleichen Tag untersucht zu werden, erfuhr ich, muss man um vier da sein. Vor anderen Krankenhäusern schlafen die Menschen deswegen in Schlangen. Bei diesem ist das wegen der riskanten Sicherheitslage unmöglich. Aber für die Auswärtigen wie mich reichte es, um halb sieben da zu sein. Sagte der Wärter.

Als ich am Stichtag um halb sieben aus dem dritten und letzten Bus stieg, war die Schlange vor dem Zentrum bereits mehrere Hundert Meter lang, obwohl die Rezeption noch nicht geöffnet hatte. Wenig später brannte die Sonne. Meine Nachbarin hatte einen Regenschirm dabei und lud mich in den Schatten ein. In den nächsten Stunden kamen wir uns alle ein wenig näher. Tauschten Pfefferminzbonbons und Tipps, um welche Uhrzeit man in welchem Krankenhaus noch eine Chance hat. Schimpften über Männer und die Regierung. Denn in solchen öffentlichen Krankenstationen stehen fast ausschließlich Frauen Schlange. Vielleicht jammern deren Männer lieber zuhause, anstatt medizinische Hilfe zu suchen. Versorgt werden sie ja auch so.

Irgendwann kam ein mobiler DJ auf einem Moped und spielte uns ein paar Roberto-Carlos-Schnulzen vor. Leider fuhr er schnell weiter, als er merkte, dass er seine raubkopierten Best-of-CDs bei uns nicht loswurde. Um elf Uhr mittags hatte ich meinen Termin. Für den 21.12. um die Mittagszeit. Angeblich muss ich dann nicht mehr warten. Ich habe lieber nicht gefragt, wie es aussieht, falls ich einen Folgetermin brauche.

Als ich in meinem Dorf aus dem Bus stieg, hatte sich in der Nachmittagssonne eine lange Schlange vor der Einwohnervereinigung gebildet. Darin entdeckte ich meine Nachbarin. Weil Präsident Lula jetzt auch in unserem Dorf den Hunger ausrottet: Säckeweise Yamswurzeln und Maniok, grüne Bananen und Süßkartoffeln warteten in dem geräumigen Schuppen darauf, an die Bevölkerung verteilt zu werden. „Stell dich doch auch an“, riet mir die freundliche Nachbarin. Wie bedürftig einer war, fragten die unendlich geduldigen Frauen an der Ausgabe anscheinend niemanden. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass nur der für ein paar Wurzelgemüse Stunden Schlange steht, der das wirklich nötig hat.

Tatsächlich ist es so, dass, wer kein Geld hat, ständig in der Schlange steht. An der Bank, um sich jeden Monat seine staatlichen Unterstützungen abzuholen. An der Lottoannahmestelle, wo er aufs Glück hofft und seine Rechnungen in bar bezahlt, weil er kein Bankkonto hat. An der Null-Hunger-Gemüse-Ausgabe. Und in der Krankenstation. Kurz: Wer kein Geld hat, zahlt mir Zeit. Viel Zeit.
Hsaben wir ja alle schon mal gehört: Zeit ist Geld – und also ein probates Zahlungsmittel. Für wen aber diese Zeit, die all diese Leute in den Schlangen verlieren, Geld bedeutet, das ist mir nicht klar geworden.

Foto: Wollowski

Sonntag, 15. November 2009

Desculpem

Ich könnte die Schuld auf die Krise schieben, die macht, dass die Redaktionen Texte immer knapper bezahlen, Fotos nicht mehr drucken und Reisekosten schon gar nicht genehmigen. Oder auf den höchst willkommenen Besuch aus Deutschland, der dazu verleitet, viel mehr Stunden frei zu nehmen, als die Arbeit zulässt. Ich kann aber auch gar keine Schuld verteilen und einfach sagen: Tschuldigung, liebe Leser, ich habs nicht geschafft, ein Post zu formulieren, dieser Tage. Und die nächsten sind ebenso vollgestopft. Aber am Wochenende, da melde ich mich wieder.

PS. Kommentare sind der Treibstoff jedes Bloggers, nicht vergessen!

Samstag, 7. November 2009

Sicherheits-Seil gegen die Bekehrung


Heute morgen haben sie mich erwischt. Ich hatte den Müll an die Straße gestellt und dann vergessen, das Seil wieder zu spannen.

Gleich nach meinem Einzug hier habe ich nämlich ein dickes Seil in die Einfahrt gespannt. Gegen die Missionarinnen. Hier im Dorf sind schätzungsweise 80 Prozent der Bewohner religiös fanatisch. Sei es bei den Baptisten, bei den Erlösern oder der Osterbewegung. Im Dorf selbst gibt es drei solcher Kirchen, neben der die kleine katholische Kapelle beinahe wie eine Puppenstube wirkt. Und die Hirten der Schäfchen dieser Kirchen schicken alle Tage Missionarinnen aus. Es sind immer Frauen. In Zweier- oder Dreier-Grüppchen ducken sie sich unter großen bunten Sonnenschirmen durchstreifen unermüdlich die Sträßchen des Dorfs nach Opfern. Mein Seil hat sie bisher abgehalten. Die Haustür ist auch weit genug davon entfernt, als dass sie sich zum Rufen inspiriert fühlten.

Jetzt standen sie direkt an meine Haustür, und die beiden Hunde hatten nicht einmal gebellt. Faules Pack. Freundlich fragte die eine: „Bist du gerade beschäftigt?“. Nun ja, es war samstags vormittags zur Frühstückszeit. „Ich arbeite gerade“, sagte ich vorsichtshalber. „Ah, dann werde ich dich nur ganz kurz stören“, sagte die Missionarin und blätterte in ihrer Bibel. „Nur so viel, will ich dir sagen. Manche glauben ja, Jesus sei nur für die Reichen da. Aber nein, er segnet auch die Armen.“ Offensichtlich sieht es hier aus wie bei armen Leuten. Zur Bekräftigung ihres Urteils suchte sie weiter in der Bibel und las mir einen entsprechenden Vers vor, der vielleicht zwei Zeilen lang war. Länger können sich die meisten Dörfler wohl nicht konzentrieren. Ich eingeschlossen, denn ich hörte den Spruch und vergaß ihn in derselben Sekunde. „Jesus war auch ein einfacher Mensch“, sagte die Dame noch. Auch? Wie ich? Wie sie? Ich zog es vor, nicht nachzufragen, um das Gespräch nicht in die Länge zu ziehen.

Prüfend blickte die Retterin der Seelen mir ins Gesicht und fragte dann: „Liest du gern?“ Da antwortete es aus mir heraus „ja“, bevor ich nachdenken konnte. Das brachte mir ein Heftlein mit dem Titel ein: „Wer ist Jesus“, auf dem vorne ein für einen maximal 37-Jährigen ziemlich verlebter Typ in Gesundheitssandalen abgebildet ist. Innen erklärt ein Text, dass Jesus vor 2000 Jahren gelebt hatte, ein Lehrer war, der seine Lehren lebte, und dass er die Liebe gelehrt und gelebt hatte. Später ist noch die Rede von den Wundern, die er vollbracht hat, und dass wie seine Liebe imitieren sollen. Klingt hübsch. Illustriert ist das Ganze mit Bildern von Korngaben tragenden Männern und blonden Kindern. Sieht nicht sehr nach Brasilien oder dem biblischen Land aus.

Das Kleingedruckte am unteren Rand des Heftleins erklärt, warum: Es ist eine Produktion von www.watchtower.org – und wer mehr Informationen möchte, bekommt Adressen der Zeugen Jehovas in Angola, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Ecuador, USA, Französisch Guyana, Mosambik, Paraguay, Peru, Portugal, Surinam, Uruyguay und Venezuela. Nach welchen Kriterien die Länder wohl so zusammen gefasst worden sind?

Die freundliche Dame jedenfalls hat sich gleich verabschiedet, nachdem sie mir die Lektüre in die Hand gedrückt hatte. Ihr gutes Werk für heute ist getan. Und „nächstes Mal“, so kündigt sie an: „da werden wir uns dann länger unterhalten!“

Ich weiß, was dann kommt: Einladungen und Einladungen und Abholkommandos zum Besuch des „Culto“, den ich beinahe täglich bis in mein Wohnzimmer vernehme, mit all den gebrüllten Sündenbekenntnissen und Attacken auf die Geldbörsen der Schafe. Denn umsonst ist bei diesen Leuten nur das allererste Heftlein. Kaum waren die Missionarinnen außer Sichtweite, habe ich deswegen sofort mein Sicherheits-Seil gespannt. Vielleicht sollte ich noch ein Schild dazu hängen: Vorsicht bissige Hunde.

Foto: Wollowski

Sonntag, 1. November 2009

Endlich Frieden für die Banditen


„Bewohner von Mittelklasse-Vierteln werden die Favela-Agglomeration Complexo do Alemão, im Norden von Rios beneiden”, behauptete Dilma, Lulas Präsidentschaftskandidatin bei einem Besuch dort zu Anfang dieses Monats. Eine erstaunlich optimistische Prognose, wenn man bedenkt, dass der Complexo do Alemão zu den gefährlichsten Gegenden von Rio gehört und fest in den Händen ihres “Besitzers” FB liegt. Drogengroßhändler Fabiano Anastácio da Silva, besser bekannt als Fabiano der Geier oder eben kurz FB, herrscht wie ein König, er lässt auf dem Hügel „Alemão“, der 13 Favelas mit insgesamt 65.000 Einwohnern zusammenfasst, nach Belieben Menschen festnehmen, frei lassen oder töten.

Im September vergangenen Jahres etwa wurden diverse verkohlte Leichen von minderen Drogenhändlern aufgefunden. Damals hatten mehr als 800 Polizisten in einem Großeinsatz den Complexo gestürmt. Außer den Leichen fanden sie 20 Kilo Kokain, 30 Kilo Marihuana, 3 Maschinengewehre, 32 zwölf-kalibrige Schrotflinten und reichlich Munition. Es wäre naiv, anzunehmen, dies sei das gesamte Waffenarsenal gewesen, über das Fabiano der Geier verfügt.

Dennoch kündigte Rios Sicherheitschef José Mariano Beltrame damals statt weiterer Aktionen an, er werde seine Männer vom Complexo do Alemão abziehen. Weil ihre Gegenwart die Aktionen des PAC stören könnte. Seine euphemistisch verbrämte Aussage bedeutet im Klartext: Favela-Chef FB könnte sich durch die Anwesenheit der Polizisten gestört fühlen. Und wenn der totalitäre Herrscher dieses Reichs innerhalb der Stadt Rio sich gestört fühlt, dann wird auch aus dem PAC nichts. Und der PAC wiederum, soll ja laut Dilma dafür sorgen, dass die Mittelklasse-Bevölkerung demnächst lieber im Complexo do Alemão wohnen will, als in ihren Mittelklasse-Vierteln. Dafür sollen umgerechnet rund 260 Millionen Euro in den Complexo fließen – mehr als dreimal so viel als im Jahr 2008 in ganz Brasilien für neu angelegte städtische Kanalisationssysteme ausgegeben wurde.

Gebaut werden die größte Erste-Hilfe-Station des Bundesstaates Rio de Janeiro, Wohneinheiten für Bedürftige und sechs Drahtseilstationen. Die Drahtseilbahn soll die Bewohner des Complexo mit dem Stadtzentrum verbinden und so ihre Beweglichkeit erhöhen. Bis Ende 2010 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Ein großes Geschenk des Staates an seinen Gegenspieler, und das sollen die Menschen des Alemão natürlich mit Kandidatin Dilma verbinden. Damit sie gleich wissen, wem sie dankbar sein und wen sie also nächstes Jahr wählen sollen. Dilma zeigte sich bei ihrem – höchstwahrscheinlich mit Parallelherrscher FB abgesprochenen – Besuch beeindruckt von Qualität und Ausmaßen der Baumaßnahmen und äußerte die Ansicht, die Gewalt, welche die Gegend bislang prägt, werde sicher abnehmen. Weil der Staat ja nun seine Pflichten in der Slum-Agglomeration do Alemão nicht mehr ignorierte.

Schon zwei Wochen später bekamen Dilmas schöne Worte einen hässlich zynischen Unterton, als Vertreter der Drogenmafia Comando Vermelho einen Polizeihubschrauber abschossen, der einen internen Konflikt zweier Fraktionen überflog. Beltrame verglich die Aktion dramatisch mit dem Angriff der AL Qaeda auf die USA. So überrascht waren nicht alle von diesem Gewaltausbruch: Die Ex-Polizeichefin und jetzige Abgeordnete Marina Magessi hatte bereits kurz nach der Rede der Kandidatin Dilma gewarnt: „Seit die Polizei wegen der PAC-Baumaßnahmen den Complexo do Alemão meidet, fliehen die ganzen Banditen dorthin.“.

Letzten Sonntag feierte der Complexo do Alemão mal wieder eine Funk-Party – ein Freudenfest anlässlich des abgeschossenen Polizei-Hubschraubers. Dabei sang DJ Will den beliebten Refrain: „Hier kommt die Militärpolizei nicht rein, hier gibt es nur Taliban, Terroristen der Al Qaeda!“.

Also hat Lula sein Ziel erreicht. Im Dezember des vergangenen Jahres hatte er angekündigt, er werde den Complexo do Alemão in ein „Territorium des Friedens“ verwandeln. Auch Dilma hat Recht: Der Complexo ist tatsächlich friedlicher geworden. Für die Banditen.

Foto (Banditen fackeln Busse ab): Ricardo Moraes/Reuters

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Franceneto, cabra da peste und demnächst Präsident?


Das ganze Dilemma der Lula-Nachfolge könnte so einfach gelöst werden. Dass er da noch nicht drauf gekommen ist! Während der mangelnde Charme seiner Bevorzugten Dilma durch die Kandidatur der grünen Marina noch stärker zu stören scheint und die Truppe um den Präsidenten verzweifelt hier und da Unterstützungs-Alliancen für die harsche Lady strickt, steht einer auf Abruf im Hintergrund. Dass Popularität allein schon für politische Ämter qualifiziert, ist bekannt. Vor allem, seit die Regelung für Wahlwerbung restriktiver geworden ist, gereicht ein bekannter Name zu Vorteilen auf dem Weg in die Politik.

Der inzwischen verblichene Designer Clodovil hat es vorgemacht: kein nennenswertes Programm, aber der meistgewählte Abgeordnete Sao Paulos. Romário, Ex-Fußballer und so pleite, dass er zwangsweise auf den Rasen zurück kehrte, ist kürzlich außerdem einer Partei beigetreten, deren Namen er sich zwar nicht merken kann, für die er aber als Abgeordneter kandidieren will. Der gutaussehende Hauptdarsteller der letzten Acht-Uhr-Tele-Novela, André Gonçalves, will ebenfalls kandidieren. Und auch Ex-Big-Brother Kléber "Bambam"will in die Politik. So gesehen träumt Frank einen verbreiteten Traum. Allerdings belässt er es nicht beim Träumen: 2006 bekam er bei seiner Wahl zum Abgeordneten die drittmeisten Stimmen aller Kandidaten seiner Partei. Kein schlechtes Ergebnis - so aus dem Stand. In diesem Jahr wird ein Film über Franks Leben gedreht – ein weiterer Pluspunkt auf Stimmenfang.

Es geht stetig aufwärts: Längst hat der Nachwuchs-Politiker den Abgeordneten-Job gegen den des Vize-Bürgermeisters in seinem Wohnort Sao Bernardo do Campo getauscht, wo es bereits ein Frank-Aguiar-Museum und eine Straße seines Namens gibt. Lula persönlich soll ihm vorgeschlagen haben, dafür anzutreten. Mit dem ist er seit vielen Jahren so gut befreundet, dass der brasilianische Präsident bei Frank schon zum Grillen war. Bei der Gelegenheit hat er in einer der sieben Suiten des Hauses übernachtet, die seitdem „Präsidentensuite“ heißt. Als Gilberto Gil sich aus der Politik verabschiedete, munkelten manche, Frank könne ihn als Kultusminister ablösen. Schließlich sind beide Musiker. Erhebt Gil, Mitbegründer der Bewegung Tropicalismo mit seinen Texten und Musik intellektuelle und politische Ansprüche, und musste deswegen unter der Militärdiktatur ins Exil gehen, hat Frank sich als Alleinunterhalter den Beinamen „Das Hündchen an der Hammondorgel“ verdient, weil er bei seinen Auftritten gelegentlich „au, au“ machte, wenn ihm der Text nicht mehr einfiel. Das sexy „au“ gehört inzwischen zu fast allen Songs, die mit Texten glänzen, wie „.Komm her reife Frau, komm her heiße Frau, das Sprichwort sagt: gewaschen, getrocknet, ist sie wie neu….“

Einer, der vor nur 15 Jahren aus dem armen Piauí auszog, und bereits Millionär und Vizebürgermeister in Sao Paulo ist, der kann alles werden. Sogar Präsident. Oder? Der Zeitschrift Veja sagt der Sänger und Politiker: „Ich bin ein Auserwählter“. Einer, der seinen Namen Franceneto da Luz Aguiar in einen international tauglichen „Frank“ ummünzt, überlässt auch sonst wenig dem Zufall. Frank Aguiar hat in den vergangenen 15 Jahren nicht nur – nach eigener Aussage - fünf Millionen Platten verkauft. Er hat außerdem einen Universitäts-Abschluss in Jura gemacht und arbeitet gerade an einem Master in öffentlicher Verwaltung. Anders als Präsidentschafts-Kandidatin Dilma, die erst Ende des vergangenen Jahres entdeckte, dass in Brasilien auch Politikerinnen dem Diktat der Schönheit unterliegen, ist Franceneto von Natur aus eitel: Jede Woche Maniküre, Lymphdrainage und regelmäßige Haarkuren für den Künstler-Pferdeschwanz gehören bei ihm längst zur Routine. Parfüm von Gaultier ist sein Markenzeichen.

Inhaltlich steht er ganz auf der Linie seines Grillkumpels Lula. „Ich interessiere mich für die menschliche Wärme der Arbeiter-Mutter, die uns umarmt und anfeuert. Ich interessiere mich für die Probleme der Ärmsten, für die Schwierigkeiten derjenigen, die bei den Entscheidungen der Politiker außen vor bleiben, und für die Ängste derjenigen, die immer noch im Kerker der sozialen Ausgrenzung leben“, beschreibt er sich auf seinem Blog. Vielleicht hat er sich das in den vielen Jahren als offizieller Wahlparty-Musiker der Arbeiter-Partei PT abgehört. Vielleicht hat er es auch selbst erfunden. Selbst jedenfalls lebt er nicht unbedingt bescheiden. Neben dem Personal in der Sieben-Suiten-Villa beschäftigt er 40 Berater und Assistenten. Je eine Truppe für sein öffentliches Leben, für sein Leben als Künstler und für sein Privatleben. Einer ist nur damit beschäftigt, dem Vielbeschäftigten die wichtigsten Filme und Bücher auszuwählen und zusammenzufassen. Ein anderer legt ihm die Kleidung für jeden Anlass zurecht. Eine dritte unterrichtet ihn in Rhetorik und hat ihm beigebracht, dass er „bei Reden keine Witze reißen soll“.

Das mag einem schwerfallen, der als Vize-Bürgermeister gerne bei Leuten aus dem Volk anruft und ankündigt: „Brat mal zwei Spiegeleier, ich komm dann zum Mittagessen“. Aber Lula ist ja bestes Beispiel dafür, dass einem beliebten Mann auch schlechtere Witze gern verziehen werden. Und Frank hat noch einen weiteren Pluspunkt vorzuweisen. Er ist nicht korrupt, sagt er. In seinen eigenen Worten heißt das: „Ich gehöre nicht zu den Hurensöhnen von Politikern, die dem Volk Geld stehlen.“

Da im Piauí, wo er herkommt, gibt es einen Ausdruck für Leute wie ihn. „Cabra da peste“ sagen sie da zu einem, der ein echter Kerl ist.

Foto: areavip.com.br

Samstag, 17. Oktober 2009

Plopp, da war die Kröte

Manche mögen allmählich denken, ich erfinde diese Tiere. Manchmal glaube ich selbst kaum daran, dass sie echt sind. Deswegen habe ich diesmal gleich das Original fotografiert. Und darüber andere, womöglich wichtigere Handlungen vergessen. Aber der Reihe nach. Letztens beim Zähneputzen wurden plötzlich meine Füße nass. Der Zusammenhang erschloss sich mir nicht sofort. War ja auch noch früh am Morgen und ich nicht ganz wach. Beim Gesicht Waschen wurden meine Füße noch nasser. Ein bisschen Anschauung im Bad brachte mich auf folgende Lösung des Rätsels: Das Wasser aus dem Waschbecken fließt in ein Abflussrohr, das einen zweiten Zulauf am Fußboden des Bades hat. Und was oben gerade abgeflossen war, spülte mir nun unten die Füße. Unschön.

Ich weiß, ganz Brasilien singt derweil fröhlich „wir sind Olympia“, wer nicht singt, bereitet sich auf die WM in Südafrika vor, andere nutzen die Gunst der Stunde, sich schnell illegal die Taschen zu füllen - und überhaupt gibt es viel Wichtigeres als eine Überschwemmung im Bad. Deswegen wollte ich das Problem so schnell wie möglich lösen. Stocherte also mit einem dicken Draht in dem unteren Abflussloch herum. Und brachte tatsächlich ein bisschen Sand und Laub zutage. Laub findet man in deutschen Abflüssen seltener, weil in deutschen Häusern zwischen Wohnraum und Dachziegeln meist ein Dachboden ist und also das Laub nicht einfach so durch Lücken zwischen den Ziegel herein flattern und womöglich unbemerkt heimtückisch daran arbeiten kann, Abflüsse zu verstopfen. Es gelang mir, noch ein wenig mehr Laub zu angeln, aber nicht sehr viel. Nicht genug, um das Problem zu beheben.

Die nächsten Tage übte ich also, mir mit möglichst wenig Wasser den Mund auszuspülen. Das Gesicht wasche ich seitdem in mehreren Etappen. Die verkraftet der Abfluss.

Gestern wollte ich das Bad putzen. Mit ungesund riechenden chemikalischen Zusätzen namens Pinho Sol: Falls es wegen des drohenden Wasserstaus nicht richtig sauber werden würde, hatte ich mir überlegt, sollte es doch wenigstens nach geputzt riechen. Fröhlich schrubbte ich den etwas sandigen Boden, die Dusche und die Wände und goss schließlich schwungvoll den letzten Rest Pinho-Sol-Putzwasser Richtung Abfluss.

„Plopp“ machte es da. Und wie im Märchen ploppte plötzlich eine kleine Kröte aus dem Abflussrohr in die Überschwemmung. Saß da auf dem Badezimmerboden und erzählte mir leider nichts von drei freien Wünschen. Die Kröte sagte gar nichts, sie saß nur da. Und ich rannte los, den Fotoapparat zu holen, damit mir das auch jemand glauben würde. Beim Fotografieren fiel mir auf, dass die Kröte beinahe exakt die Rohrgröße hatte. Sie musste sich nur ein winziges bisschen lang machen, um wieder in dem Rohr zu verschwinden. Weg war sie, als sei sie nur zum Fototermin aufgeploppt. Die Kröte war die Verstopfung, ganz klar!

Mein Vermieter fand das auch. Ich hätte es gleich ausprobieren sollen, kritisierte er, als die Kröte aus dem Rohr raus geploppt war, sofort das Wasser aufdrehen. Recht hatte er, aber ich musste ja fotografieren. Macht nichts, meinte er, schütte einfach wieder Pinho Sol in das Rohr. Dann wird sie wieder vor den Chemikalien flüchten, du nimmst sie und trägst sie tief in den Wald hinein, damit sie den Weg nicht mehr zurück findet. Kennt sich jemand mit dem Orientierungssinn von Kröten aus? Ich nicht. Ich machte mich auf eine weitere Wanderung gefasst.

Chemikalien in ein Rohr zu gießen, das verstopft ist, ist gar nicht so einfach. Ich träufelte den Krötenschreck über einen geraumen Zeitraum liebevoll hinein und wartete ab. Es geschah nichts. Keine Kröte. Kein Plopp. Keine Wanderung. Leider floss das Wasser trotzdem nicht ab. Wahrscheinlich hat das Krötentier die märchenhaften Wünsche einfach selbst genutzt und sich zuerst gewünscht, dass so ein Pinho Sol auf der Krötenhaut nicht mehr jucken sollte.

Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als morgen im Garten nach dem Rohr zu graben.

Foto: Wollowski

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Vertreibung im Namen des Fortschritts


Hier in Pernambuco wird ja viel vom Fortschritt geschwärmt. Der Fortschritt ist vor allem der neue Industriehafen von Suape, und der soll der Wirtschaft des Bundesstaats einen ungeheuren Schub geben. Pernambuco wächst wie noch nie, heißt es. Zigtausende von Arbeitsplätzen werden entstehen, heißt es. Welchen Preis das hat, schreibt natürlich lieber keiner. Ich will auch gar nicht behaupten, ich wüsste genau, was es für Auswirkungen hat, wenn einerseits Mangrovensümpfe massenhaft trocken gelegt und andererseits neue Fahrrinnen für Cargoschiffe ausgebaggert, Flüsse umgeleitet oder versandet werden.

Natürlich sind die vielen neuen Arbeitsplätze nicht für die Einheimischen. Die haben fast alle viel zu wenig gelernt, um auch nur als Bauhelfer dabei zu sein. Die Neuen kommen aus Bahia und dem Süden, manche jetzt schon aus dem Ausland. Ein Teil der zugezogenen Arbeiter wohnt im Nachbarort Gaibu. Weil die sogenannten Peoes irgendwo essen und schlafen müssen, wird in Gaibu gebaut wie noch nie, und die Mietpreise haben sich im letzten Jahr ungefähr verdoppelt: Für die Firmen ist es immer noch billiger, vier Arbeiter in einer vollkommen überteuerten Mietwohnung unter zu bringen, als in einem Hotel. Jeder, der einen Löffel halten kann, eröffnet ein Restaurant oder bietet Mahlzeiten zum Mitnehmen an. Und morgens um sechs, wenn die großen Firmenbusse ihre Mitarbeiter abholen kommen, stehen Hunderte von Männern in knallroten Blaumännern überall an den Straßen. Manche Leute finden das einen schönen Anblick, weil Ausdruck des Fortschritts. Eine Bekannte findet es toll, dass es jetzt so viel Männerauswahl gibt. Ich fahre noch seltener nach Gaibu als vorher.

Am Wochenende haben mich Freunde zu einem Ausflug eingeladen. Mit einem kleinen wendigen Segler sind wir über den Fluss übergesetzt auf die Insel Tatuoca. Dort wohnen ein paar Dutzend Familien, darunter Dona Dete, die Tante der Bekannten. Tatuoca ist flach und sandig, mit Salinen, Mangroven und Waldstücken. Dona Dete wohnt in einem kleinen Haus aus Holz. Direkt am Wasser. Im Garten wachsen Papayas, Cashews, Kokospalmen. Ein paar Hühner streifen durch die Gegend. Auf der hinteren Terrasse im Lehmofen brennt den ganzenn Tag ein kleines Feuer, auf dem sich jederzeit ein Tässchen Kaffee brühen lässt oder ein Essen bereiten. Normalerweise ist Dona Dete hier allein mit ihrem Neffen. An Wochenenden kommt manchmal Besuch.


Außer uns war eine andere Nichte von Dona Dete da. Die hatte den größten Teil ihres Lebens auf Tatuoca und der benachbarten Insel Cocaia verbracht. In einem kleinen Häuschen direkt am Wasser. „Man musste keine zehn Schritte tun, um Muscheln zu suchen“, erinnert sie sich. „Bei Flut schwammen die Fische um unsere Terrasse herum.“ Als die Industrie sich nach Cocaia ausdehnte, ist sie vertrieben worden. Bekam eine gesetzlich festgelegte Entschädigung in die Hand gedrückt und eine Räumungsfrist von 15 Tagen. „Ich habe damals mehr geweint, als am Tag, an dem mein Vater gestorben ist“, erinnert sich die Nichte. Inzwischen wohnt sie seit mehr als zehn Jahren viele Kilometer entfernt im Landesinneren.

Dona Dete ist über siebzig, aber sie fegt ihren Garten jeden Tag selbst mit dem Reisigbesen. Nur das Trinkwasser kann sie sich nicht mehr selbst holen, denn dafür müsste sie über den Fluss rudern. „Sie wollen uns ja jetzt hier auch weg haben“, sagt sie, „ich weiß gar nicht, was ich machen soll, ich kann halt nicht mehr wie früher“. Und guckt auf ihren Garten und die Hibiskusbüsche. Es gibt Pläne, dass eine Siedlung für alle Bewohner von Tatuoca gebaut werden soll, auf dem Festland. Dort soll jeder Vertriebene ein Häuschen bekommen. „Aber wie werden sich denn die Leute gewöhnen?“, fragt sich Dona Dete. „Wer hier in dieser Freiheit gelebt hat, soll auf einmal in einer Siedlung wohnen, mit dem Nachbarn gleich nebendran?“ Ihr Holzhäuschen hat kein Schloss. Braucht es auch nicht. Manchmal übernachten Besucher im Garten in der Hängematte. Wenn frisch der Wind weht, stören dabei nicht mal Moskitos.

Die Kinder der Bekannten sammeln ein paar Kakteen und Orchideen zum Mitnehmen für ihren Garten. Sie paddeln im Ruderboot zur Insel Cocaia, deren langer weißer Sandstrand noch nicht für Tagesbesucher gesperrt ist. Bemalen sich mit Lehm und sammeln Muscheln, die sie gleich roh verputzen.



„Andere gehen mit ihren Kindern ins Shopping-Zentrum“, sagt mein Bekannter. Das ist vermutlich auch eine Art Fortschritt.


Fotos: Wollowski

Montag, 5. Oktober 2009

Beamte und die Bildung


Brasilianer, wenigstens hier im Nordosten, lieben Alliterationen bei den Namen ihrer Kinder. Wenn es zu viele Kinder werden und die Fantasie bei der Namenschöpfung erschöpft ist, kann das so enden wie bei meiner Vermieterin. Sie heißt Lenilda, aber in ihrem Paß steht Genilda, weil bereits eine ihrer älteren Schwestern als Lenilda registriert war. Zugegeben ein vergleichsweise geringfügiges Problem.

Präsident Lula soll kürzlich ganz entgegen seiner Gewohnheit gesagt haben, ohne Bildung käme niemand in Brasilien ins Präsidentenamt. Vielleicht schafft das nach ihm wirklich niemand mehr, seine Kandidatin Dilma hat sich ja vorsichtshalber gleich zwei Universitätsabschlüsse in den Lebenslauf geschönt. Woanders hin kommt man in Brasilien allerdings durchaus ohne Bildung. Beamte ohne Bildung kosteten Gilson Ramalho da Costa kürzlich zehn Tage seines Lebens.

Der 38-Jährige war arbeitslos und wollte sich einen Job suchen. Als Putzhilfe. Egal. Die Hauptsache war für ihn, seine Mutter, bei der er wohnte, ein bisschen unterstützen können. Gilson hatte sogar Chancen auf eine feste Arbeit. Es fehlte ihm nur ein Führungszeugnis, dann würde er eingestellt, hatte man ihm in der Personalabteilung gesagt. Also ging er los, sich ein solches Zeugnis zu besorgen. Und dann kam alles anders als geplant. Gilson wartete noch am Schalter, als drei Männer mit einem Dokument auftauchten, das sie als Haftbefehl bezeichneten.
„Gilson, du bist verhaftet“, hieß es plötzlich und ab ging es in eine Massenzelle, in der nicht einmal auf dem Boden genug Platz war, als dass alle dort Inhaftierten sich zum Schlafen hätten hinlegen können.

Gilson hat den Haftbefehl gesehen, Gilson kann lesen. Da stand nicht sein Name, sondern Gerson Ramalho da Costa. Es ist nicht bekannt, ob die in den Fall verwickelten Vertreter der Polizeigewalt lesen konnten. Gilson jedenfalls versuchte vergeblich, ihnen klar zu machen, dass sie mitnichten Gerson inhaftiert hatten. „Wieso stehen dann hier die gleichen Namen bei den beiden Eltern, wie in deinem Ausweis“, fragten die Beamten zurück. „Ganz einfach, weil Gerson mein Bruder ist“, erklärte Gilson. Nutzte ihm alles nichts. Er blieb zehn Tage im Knast.

Derweil hatte der schuldige Bruder den Haftgrund längst aus dem Weg geschafft: Es ging um umgerechnet weniger als 200 Euro Unterhalt, die Gerson seiner Ex-Frau schuldete. Die beiden hatten sich längst geeinigt, als es nach zehn Tagen endlich einem Anwalt gelang, den Unschuldigen Gilson frei zu bekommen. Der will jetzt den Staat auf umgerechnet um die 75.000 Euro Schmerzensgeld verklagen.

Mehr Bildung bewiesen ebenfalls in Sao Paulo bereits vor längerer Zeit ein paar Streifenpolizisten. Die guckten ziemlich genau hin, als sie einen hübschen neuen Toyota in einer Verkehrskontrolle vor sich hatten. Der Name stand gleichlautend auf dem Nummernschild und in allen Fahrzeugpapieren. Obwohl die Hauptstadt des Bundesstaates Santa Catarina mehr als 700 KIlometer entfernt war und den Beamten nicht jeden Tag ein Pkw mit Kennzeichen von dort unter die Augen kam - irgendwie sah das komisch aus:

Frorianopolis*

stand da. Geistesgegenwärtig nahmen die Beamten den Fahrer auf der Stelle fest.

* Die Hauptstadt von Santa Catarina heißt Florianopolis.

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Schlechtes Karma und schlaflose Nächte


Was ist schlimmer, schlechtes Karma oder schlaflose Nächte? Letztens bin ich mitten in der Nacht von seltsamen Geräuschen wach geworden. Klang so, als würde jemand an den Dachziegeln rütteln. Genaueres Hin-Lauschen ergab, dass das Geräusch vom Dachfirst kam. Innen. Taschenlampe geholt, geleuchtet. Da guckte ein Tier auf mich runter. Mit rundlichen weißen Ohren, einem gestreiften Gesicht und einem Körper, den es lang und platt zwischen Dachbalken und Dachziegel gequetscht hatte. Wozu es da eingeklemmt war? Keine Ahnung. Während wir uns so anstarrten, schlängelte es sich in Zeitlupe weiter, Dachziegel anhebend, den langen nackten Schwanz um den Balken geschlungen.

Von unten bellten die Hunde den Eindringling wütend an, was den wenig kümmerte, waren schließlich beruhigende drei Meter Höhenunterschied zwischen ihm und den Bellern. Mein Kater, dem die Höhe wenig ausmachen würde, saß still und unauffällig in einer Ecke des Wohnzimmers – wahrscheinlich fürchtete er sich vor dem Tier, das deutlich größer war als er. Und ich starrte. Tiere töten bringt schlechtes Karma, fiel mir ein. Weil ich außerdem weder ein Waffe noch eine gute Idee hatte, ging ich irgendwann wieder ins Bett.

Am nächsten Tag suchte ich Rat bei Freunden und Nachbarn. Eie Freundin sagte: Das sind zwei. Die leben als Pärchen und haben garantiert längst ein Nest auf dem Dach, das musst du ausheben. Und warnte: die fressen Hühner und auch manchmal Katzen. Sie bezeichnete das Tier als Timbú.

Timbú, weiß ich inzwischen, ist ein typischer Ausdruck aus Pernambuco, der ein Beuteltier benennt, das anderswo Gambá genannt wird, sich von Früchten, Getreide oder Kleintieren ernährt und Nester gerne in Bäume baut. Der Cashew-Baum des Nachbarn reckt seine Äste weit über mein Dach. Darin versteckt sich womöglich das Nest. Gambá-Kinder zu töten bringt sicher doppelt schlechtes Karma.

Also habe ich Gift gelegt. Fies und gemein und in zwei Varianten. Einmal Rattengift in einem Schälchen, zwischen Dachbalken geklemmt, sodass auch sicher nicht die Katzen dran kommen. Das ist für Nagetiere, Gambás sind Nagetiere, also funktioniert das – so die Argumentationskette des Verkäufers. Und einmal in Form von Zementpulver, mit Maisschrot gemischt: den Zement sollen die Nager versehentlich mit verschlucken, und dann innerlich zementieren. Bringt sicher auch schlechtes Karma. Falls es je dazu kommt. Denn die Giftgaben sind auch nach zwei Nächten unberührt.

Mein Bekannter sagt: Die kommen Pferdefutter fressen. Und weil es das bei dir früher im Schuppen gab, bist Du auf deren Route gelandet. Der nächtliche Besucher war ein Späher, der hat nichts Fressbares gefunden, also kommen sie in ein paar Wochen wieder nachsehen. Die wirst du nicht mehr los!

Meine Bekannte sagt: Die kommen die Küken deiner Nachbarin fressen. Und schleichen sich über dein Haus an. Und weil sie nie die ganzen Tiere fressen, sondern nur die Innereien, werden sie hinterher die Leichen bei dir liegen lassen. Dann glaubt deine Nachbarin, dein Kater sei der Mörder gewesen.

Im Internet heißt es: Gambás sind immun gegen Schlangengift, nur eine Dosis, die 4000 Mal stärker wäre als um einen Bullen zu töten, brächte einen Gambá um. Und sie fressen nicht nur Hühner, sie schlürfen auch Hühnerblut direkt aus der Arterie.

Abends sitzt mein Kater jetzt oft auf einer der Zwischenwände, die nicht bis zum Dach hoch gezogen in Fischerhäusern die Zimmer voneinander trennen. Dann starrt er auf die Dachbalken. Keine Ahnung, ob er da etwas sieht oder riecht oder nur auf eine Chance wartet, seine Feigheit vom letzten Mal wett zu machen.

Ich wache inzwischen mehrmals pro Nacht von Geräuschen auf. Die sich dann jedes Mal als eingebildet heraus stellen. Meine Füße setze ich auch tagsüber nur noch vorsichtig auf – immer darauf gefasst, in eine von Innereien befreite Kükenleiche zu treten.

Mein Nachbar nennt das Tier Cassaco und empfiehlt eine Lanze. Nachts bereit gestellt, neben dem Bett. Beim leisesten Geräusch aufspringen und zwischen Balken und Ziegel zielstrebig zustechen. Kaltblütig abmurksen. Und dann glücklich weiter schlafen.

Seit gestern denke ich darüber nach, wie ich mir am besten eine Lanze baue. Ob schlechtes Karma wohl Schlaflosigkeit verursacht?

Foto: Daniel Lavenere

Sonntag, 20. September 2009

Du musst, musst, musst in den Himmel hinein


Gestern tanzten im TV übermenschengroße disneyähnliche Puppen einen albernen Hüpftanz und sangen dabei schmalzige Melodien. Zuerst wollte ich gleich weiter schalten, aber dann guckte ich vorher noch schnell genauer hin: In den Puppen steckten Menschen, und die hüpften in einer Kirche herum und sangen Sachen wie: „….denn du musst, du musst in den Himmel hinein.“ Die Texte der modernen freikirchlichen Lieder sind gelegentlich etwas eigenwillig. Meine Nachbarin etwa hört besonders gerne ein Stück, dessen Refrain lautet: „Jesus, assa-me por dentro“, was auf Deutsch etwa heißen könnte: „Jesus, brate mich von innen“. Weitere mögliche Interpretationen lasse ich hier weg, um nicht pornographisch zu werden.

Bedrohlicher scheint mir dennoch der Refrain mit der Himmelseinfahrt. Denn das meinen die Pastoren anscheinend ernst. Jeder muss in ihren Himmel. Dafür tun sie alles. Schleichen Pastoren in Capoeira-Gruppen und neuerdings sogar in die Nationalelf ein. Die Fifa hat das ostentative Vorzeigen religiöser Botschaften bei den Interviews nach gewonnen Spielen bereits ausdrücklich verboten. Daraufhin hat einer sich das entsprechende Shirt um den Bauch gebunden… Schrift natürlich gut sichtbar. Man sieht: Die Gehirnwäsche klappt bestens.

Um den Weg in den Himmel zu finden, muss sich längst keiner mehr für Kirche und Religion an sich interessieren. Ähnlich wie die Scientologen, die in den 80er Jahren ihre Kunden durch Tests zur Selbsterkenntnis köderten – immerhin mitten in der Psycho-Ära - holen die Seelenfänger der evangelischen Freikirchen ihre Kunden dort ab, wo deren Interesse liegt. Vermutlich deswegen wachsen sie von allen Religionsgemeinschaften in Brasilien am schnellsten.

Besonders beliebt bei jungen Leuten ist die Kirche „Renascer em Cristo“. Kein Wunder: in manchen Tempeln sind Tattoo-Studios integriert, andere bieten Videogames oder Reggae-Shows. Für eine pfiffige Verbindung zur angeblichen Spiritualität sorgen die pfiffigen Pastoren mühelos - selbst wenn das Thema des Abends „Extreme Fight“ heißt, wie kürzlich bei einer Großveranstaltung. Da stiegen zuerst Pastoren beim Jiu-Jitsu gegeneinander in den Ring, danach hielt ein weiterer Pastor in Army-Hosen die passende Predigt: °Kämpfe lieber um dein Leben“ hieß die originelle Botschaft.

Die neuen Gläubigen lieben diese Kirchen wegen ihrer „Flexibilität beim, Ausdruck des Glaubens“, sagt Silvia Fernandes, Professorin aus Rio, die ein Buch über die evangelischen Bewegungen geschrieben hat. Diese Flexibilität geht so weit, dass etwa der Gründer der Kirche „Bola de Neve“ auf einem Surfbrett als Altar predigt- Weil er Surfer ist und im ersten Versammlungsraum kein anderer Altar zur Verfügung stand. Inzwischen gehört das geheiligte Surfbrett zur Ausstattung der Kirche, und aus sieben Mitgliedern sind 3000 Gläubige aller sozialen Schichten geworden. „Sport und Musik überwinden alle Barrieren“, sagt Kirchengründer Rinaldo Pereira. „Selbst Leute, die nicht gerne in die Kirche gehen, mögen Surf-Contests oder Reggae-Konzerte“. Oder Extreme Fight“. Wer in die Kirche kam, um den Kampf anzusehen, geht womöglich mit einem neuen Glauben nach Hause. Den kann er sich gleich auf den Arm schreiben: „Ich gehöre Jesus“ ist einer der Renner unter den Tattoo-Botschaften.

Die Pastoren mögen Surfer sein, Rocker oder tätowiert - eines haben sie alle gemeinsam. Sogar die jüngsten wie der 15jährige Sohn von Kirchengründer Pereira. Der hält bereits Predigten wie ein Profi. Und weiss genau, was am Schluss nicht fehlen darf: "Gib und Gott wird dir doppelt zurück geben“, heißt der Zauberspruch für den Klingelbeutel.

Klingt nicht ganz so schön, wie „du musst, musst, musst in den Himmel hinein.“ Aber auch das ließe sich durchaus noch steigern. Etwa zu: „Du musst, musst, musst in den Himmel hinein, sonst wirst du von innen gebraten“.

Fotos: NYT

Dienstag, 15. September 2009

Schwarz, weiblich, Marina


Der britische Guardian hat schon 2007 verkündet, Marina Silva sei eine der 50 Personen, die helfen könnten, die Welt zu retten. Damals war Marina noch brasilianische Umweltministerin – vermutlich die härteste Kämpferin, die den Posten je inne hatte. Zu hart für die Regierung. Weil Marina zum Beispiel die geplanten Mega-Wasserkraftwerke Jirau und Santo Antonio, die reichlich Arbeitsplätze, Steuergelder und Prestige schaffen würden, erst genehmigen wollte, nachdem deren Auswirkungen auf die Umwelt genau geprüft wären. Das Ende vom Lied: Marina trat im Mai 2008 vom Amt zurück. Ihr Nachfolger, Carlos Minc, hat zuletzt mit seiner Teilnahme am „Marsch für Marihuana“ in Rio Schlagzeilen gemacht.

Wer gedacht hat, damit sei Marina abgetreten, muss spätestens jetzt merken: Falsch gedacht. Marina ist eine Kämpferin, das beweist schon ein Blick in ihre Biografie, die sich liest wie ein Kitschroman. In einer armen Gummizapfer-Familie aufgewachsen mitten im Urwald, wo es weder Straßen, noch Gesundheistversorgung oder Schulen gab, konnte sie als 14-Jährige gerade mal die Uhr lesen und einfachste Rechenaufgaben lösen – um beim Gummiverkauf nicht übers Ohr gehauen zu werden. Mit 15 verlor sie die Mutter und übernahm die Haushaltspflichten für die 10köpfige Familie. So gesehen war es geradezu Glück, als sie mit 16 Hepatitis bekam. Die ließ sich nämlich nur in der Stadt behandeln.

Einmal in Rio Branco angekommen, blieb Marina einfach da. Suchte sich einen Job als Hausangestellte und lernte. Lernte alles, was sie vorher verpasst hatte. Mit 19 hatte sie bereits das Abitur nachgemacht und sich für die Aufnahmeprüfung an der Uni eingeschrieben.

Und so jemand sollte aufgeben, nur weil sie als Ministerin zu unbequem war? Statt dessen wird Marina Silva gerade noch deutlich unbequemer. Sie hat nämlich nach 30jähriger Zugehörigkeit zur Arbeiterpartei gerade die Farbe gewechselt und trägt neuerdings Grün statt Rot. Und die brasilianischen Grünen, so heißt es, wollen sie als Präsidentschaftskandidatin aufstellen.

Auch wenn die Kandidatur noch nicht offiziell bestätigt ist: das bringt die rote Dilma zum Zittern. Und den Präsidenten dazu, schnell einen Plan B und einen
Ersatzkandidaten auszuwählen. Denn Marina ist ein Überraschungsfaktor, dessen Wucht schwer einzuschätzen ist. Unermüdlich im Lernen: Die Senatorin, Mutter von vier Kindern und studierte Historikerin, steht kurz vor dem Abschluss eines Aufbaustudiums. Und unerbittlich in der Moral: Bereits in ihrem ersten politischen Amt als Gemeinderatsmitglied hat Marina freiwillig diverse Finanzhilfen wie die Wohnbeihilfe zurück gegeben und öffentlich gemacht, wie hoch sie selbst und die Ratsmitglieder bezahlt wurden. Weil sie das durchaus reichlich fand.

Das Ausland hat womöglich schon viel länger verstanden, wie effizient diese unspektakuläre Kämpferin ihre Arbeit für die Umwelt tut: In den letzten Jahren hat Marina Silva einen internationalen Preis nach dem anderen gewonnen. „Champions of the Earth“ von den Vereinten Nationen in 2007, den „Duke of Edinburgh-Award" vom WWF in 2008, und den nach dem Jostein-Gaardener-Werk benannten norwegischen „Sophie-Preis“ in diesem Jahr.

Kürzlich titelte die Zeitschrift Veja „Marina ist eine gute Nachricht“ und fragte die Senatorin, ob sie von Obama, dem ebenfalls schwarzen Präsidenten, inspiriert sei. Sie sei zwar auch schwarz, aber es sei doch vermessen, sich mit dem amerikanischen Präsidenten zu vergleichen, antwortete Marina bescheiden. Erwähnte dann aber ganz am Rande, was Freunde von ihr gesagt hätten, als Hillary und Obama gegeneinander angetreten waren: Da mussten die US-Amerikaner sich zwischen einer Frau und einem Schwarzen entscheiden. Wenn Marina in Brasilien für das Präsidentenamt kandidieren würde, hätten die Brasilianer solche Probleme nicht.

Foto: Ana Limp

Dienstag, 8. September 2009

Luxus am Lago Sul


Geplant war das alles ein bisschen anders. Aber wo Politik gemacht wird, ist meist das große Geld nicht weit, und das ist in Brasília nicht anders. Neben Rio und Sao Paulo hat sich die Verwaltungsmetropole im Landesinneren als Stätte des Luxus etabliert. Da mögen die Kommerz-Blocks zwischen den Wohnsiedlungen, die sogenannten Entrequadras Comerciais, ursprünglich noch so sozialistisch gleich angesetzt worden sein.

Was in Sao Paulo die DASLU, ist in Brasília die Magrella – zu Deutsch so etwas wie Hungerhaken. Auch wenn deren Chefin den Vergleich nicht gern hört, seit die DASLU-Chefin wegen Steuerbetrugs beim Import zu 90 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Über Magrellas Importverfahren ist uns nichts bekannt, in den Ständern hängen ohnehin überwiegend Produkte einheimischer Designer. Natürlich nicht ausgezeichnet. Preise sind Nebensache, bestätigt die Dame des Hauses. Im Hintergrund lockt die Champagner-Bar, oben wartet die Dachterrasse, und die besseren Kundinnen bekommen als kleines Dankeschön ein Schächtelchen erlesener Schokolade – aus der hauseigenen Fabrikation. Die liebsten Stammkundinnen, die durchaus um die 20.000 Dollar pro Monat bei Magrella lassen können, sind der Chefin eine hauseigenes Parfum als Präsent wert.

Ihre Kundinnen, so Cleuza, seien „hart arbeitende Geschäftsfrauen, die ihr Geld selbst verdienen und nicht von irgendwem zugeschoben bekommen.“ Überhaupt sei das ganze Gerede um Korruption und Geldwäsche vollkommen übertrieben. Man wohne und lebe eben gut in Brasília. Weil man arbeite.

Betty wohnt und lebt offensichtlich gut: Vielleicht zwei Hektar Grund direkt am Lago Sul – der exquisiten Wohnlage der Stadt – mehrere pavillion-ähnliche Wohn- und Atelierräume aus edlen Tropenhölzern und viel Glas. Betty sammelt nicht irgendwelche Kunst, sondern die Größten. Bei ihr hängen die Modelle, nach denen die Engel in der Kathedrale gefertigt wurden. Ihre Küchenwände sind mit Werken von Athos Bulcao gekachelt. „Fast alles Geschenke, die ich vor lange Zeit bekommen habe“, sagt sie, „es ist unglaublich, was das alles heute wert ist.“ Betty arbeitet grafisch. In einem historischen Eisenbahnwaggon, zu dem sie sich demnächst einen originalgetreuen Bahnhof in den Garten bauen lassen will. Obwohl sie selbst lieber fliegt, und zwar mit ihrem eigenen Flugzeug. Ihr Mann, der Anwalt, hat auch eines. Geld verdienen muss Betty nicht.

Lucio Costa soll an Menschen mit offenem Geist gedacht habe, als er Brasílias weitläufige Raumnutzung entwarf. In den Superquadras sollten Maurer und Künstler, Politiker und Wissenschaftler zusammen wohnen, sich in den Entrequadras Comerciais treffen und austauschen. Auch an Reiche hatte Costa gedacht. Die dürften auf weitläufigen Grundstücken ausnahmsweise architektonisch hochwertige Gebäude errichten, je einen Kilometer voneinander entfernt. Nur sollten diese Schmuckstücke nicht am Seeufer stehen. Denn das wäre nach dem Masterplan kein Wohn-, sondern ein Erholungsgebiet für die gesamte Bevölkerung geworden, mit Restaurants und Clubs und Sportanlagen.

Soweit der Plan. Aber wo Politik gemacht wird, findet sich immer ein Weg, Pläne umzumodeln. So lebt eben jetzt der Luxus am Lago Sul in Brasília. Für manche ist das auch sehr schön.

Foto: Agusto Areal / Lago Sul, Brasília

Sonntag, 30. August 2009

Brasília

Bin die Woche in Brasília, weit weg von Tollwut und anderen Dorfgeschichten. Statt dessen: ganz große Hauptstadt. Wie das so ist, erzähle ich hinterher.

Dienstag, 25. August 2009

So ist das auf dem Dorf : Vom toten Fohlen, der Tollwut und einem tollen Grillabend

Es fing damit an, dass letzte Woche mein Fohlen lahmte. Vielleicht hatte es ein Huf getroffen, als fremde Pferde in der Nähe gestritten hatten. Es war keine Wunde zu erkennen, aber das kommt vor. Normalerweise nur eine Frage der Zeit. Also gab ich ihm Entzündungshemmer, ein paar Extra-Vitamine und wartete ab. Am nächsten Morgen konnte die Kleine nicht mehr aufstehen. Das ist schlecht bei einem drei Monate alten Fohlen, denn dann erreicht es Mutters Zitzen nicht mehr. Inzwischen weiß ich, wer im Dorf alles melken kann. Und dass so eine Mutterstute bis zu 20 Liter Milch am Tag produziert. Wir haben die mühsam ermolkenen Mengen mit Kuhmilch ergänzt, außerdem gab es Antibiotika – für alle Fälle.

Am nächsten Tag fragte das ganze Dorf ständig danach, ob es der Kleinen schon besser ginge. So ist das auf dem Dorf. Die Nachbarin offerierte Kokosnüsse, weil deren Wasser die beste Nährlösung ist. Ein Anderer holte beim Gesundheitsposten Nährsalzlösung für Durchfallpatienten. Ein Dritter baute einen Sonnen- und Regenschutz, und ich legte ihr ein improvisiertes Kissen unter den Kopf, damit sie mit dem Auge nicht auf dem Boden zu liegen kam. Abgesehen von wilden Schlürforgien, besonders bei der Muttermilch, wurde das Fohlen trotzdem sichtlich schwächer. Hatte es in der ersten Nacht noch mit den Vorderbeinen eine rechte Grube ausgehoben, bei den Versuchen, aufzustehen, wedelte sie am dritten Tag nicht mal mehr mit dem Schweif gegen die Fliegenbelästigung an.

Derweil waren in der Umgegend drei andere Fohlen und ein erwachsenes Pferd verstorben. Einer hatte sogar einen Tierarzt gerufen, der allerdings nur etwas von Knochenkrankheit wegen der kalten Nächte gefaselt hatte. Die verschriebenen Medikamente brachten nichts, außer dass das Pferd am Folgetag verstarb. Ein Fohlen hatte den Besitzer beißen wollen und Schaum vor dem Mund – Anzeichen von Tollwut. Bei Tollwut bricht auch oft die Hinterhand zusammen. Aber es gehört Fieber dazu. Am Abend des dritten Tages hatte mein Fohlen Fieber. Und das Jungpferd eines Bekannten war in der Hinterhand zusammen gesackt.

Als er deswegen zur Veterinärhandlung im Stadtzentrum fuhr, sah er dort ein großes Plakat hängen: Achtung Tollwut! Anscheinend grassierte der Virus bereits seit Wochen im Bezirk. Und der Bürgermeister hatte es für ausreichend gehalten, im Stadtzentrum seiner großflächigen Gemeinde auf die Gefahr hinzu weisen. Es hatte sogar eine kostenlose Impfkampagne gegeben. Nur wir hier auf dem Land wussten von nichts. Das ist das Schlechte am Landleben. In der Zwischenzeit hatte das Fohlen einen Helferfinger mit der Mutterzitze verwechselt und zärtlich in den Finger gebissen. Am vierten Tag, am Sonntag, war mein Fohlen tot. Es hatte weißlichen Schaum vor dem Maul.

Am Wochenende haben bei der Stadtverwaltung alle frei, keine Notfallnummer erreichbar, nichts. Am Montag zeigten die Behörden dafür umso größeres Interesse an meinem toten Fohlen. Tollwut ist tödlich. Auch für Menschen. Sobald die ersten Symptome auftreten, ist es schon zu spät. In Stundenfrist kam ein offizieller Tierarzt die Leiche abholen. Erst eine Obduktion kann einen gesicherten Befund ergeben. Dafür muss das zu untersuchende Gehirn noch frisch sein. Trotz der noch schwachen Beweislage mussten wir direkten Helfer umgehend ins zwei Busstunden entfernte Recife fahren, denn nur dort konnten wir uns die Anti-Tollwut-Lösung spritzen lassen.

Im ersten Krankenhaus sagte der Mann an der Pforte: „Wir nehmen heute keine Notfälle mehr an, wegen Überlastung.“ Das darf er natürlich so nicht sagen, weil das öffentliche Gesundheitssystem für jeden da ist und jeden zu behandeln hat. Wir haben trotzdem nicht auf Behandlung bestanden: Im Warteraum hockten Dutzende Grippeopfer mit und ohne Mundschutz – Ansteckung garantiert.

Im zweiten Krankenhaus verpasste uns eine freundliche Oberschwester die erste von insgesamt 5 Spritzen mit Impfstoff gegen Tollwut. Nur die Antivirale Lösung durfte sie uns nicht geben, weil die von einer Ärztin verordnet werden muss. Zwei Busse und eine Stunde später standen wir in einer Schlange im dritten Krankenhaus. Hinter uns ein Grippeopfer, vor uns ein mürrischer Trainingshosenträger, sonst noch im Raum: vier Krankenschwestern, zwei Ärzte, und wechselnde Notfälle. Einmal hing eine ältere Diabetikerin so in den Seilen, dass schnell das Elektroschock-Gerät geholt wurde. Dann sprang ein Mann in Shorts und ohne T-Shirt herein, dem die Hände auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt waren. Aus seinem Verband am Unterschenkel tropfte Blut auf den Boden. Später erzählte uns der Arzt, der Mann habe ins Haus der Diabetikerin eingebrochen – auf der Gesundheitsstation trafen sich Opfer und Täter schneller wieder, als sie wohl geahnt hatten.

Wir bekamen jeder insgesamt vier Spritzen. Zwei mit Kortison, damit die Antivirale Lösung keinen Allergieschock auslöste, zwei mit der Lösung selbst. Nebenwirkungen unerheblich, sagte der Arzt, bisschen Müdigkeit vielleicht. Ärzte untertreiben in solchen Fällen immer, aber dieser war der größte Untertreiber, der mir je unter gekommen ist. Nach der vierten Spritze hatte ich Mühe, die drei Meter bis zur Wartebank zu schaffen. Und als ich artikulieren wollte, wie es mir ging, kam nur ein lalles Nuscheln aus meinem Mund. Wie sollte ich die drei Busse und mindestens ebenso viele Stunden Fahrt nach Hause nur schaffen?

Jedenfalls musste ich dringend vorher noch auf Toilette gehen. An der Bushaltestelle wusste ich nicht mehr: War ich auf Toilette gewesen oder nicht? Leider wusste es mein Begleiter auch nicht mehr. Im zweiten Bus wurde mir klar: Ich war nicht. Der dritte Bus kam nicht. Mit einer Horde Abendschüler standen wir in der Nacht, und wenn es irgendwo einen trockenen Platz gegeben hätte, wäre ich gerne dortselbst eingeschlafen. Leider nieselte es, was die Sache mit der vollen Blase nicht leichter machte . Nach einer Stunde kam der Bus, aber eigentlich passte keiner mehr rein. Der Vorteil daran war, dass wir nicht umfallen konnten, selbst wenn wir es versucht hätten. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich den Hügel zu meinem Haus hinauf gekommen bin. Ich weiß nur, am nächsten Morgen bin ich in meinem Bett aufgewacht.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Eine Dame von der Behörde wollte wissen, wie viele andere Personen noch mit dem Fohlen Kontakt gehabt hätten. Die müssten alle geimpft werden. Habe ich heute umgehend an alle Betroffenen weiter gegeben. „Brauch ich nicht“, sagte der eine. „Ich hab Angst vor Spritzen“, sagte der andere. „Ok, mach ich morgen oder so“, meinte der dritte. Das kommt davon, wenn keiner die Leute darüber aufklärt, welche Gefahr Tollwut bedeutet. In einem anderen Viertel sollen die Leute aus dem frisch verendeten Rind noch einen tollen Grillabend gemacht haben. So ist das eben auch manchmal auf dem Dorf.

Dienstag, 18. August 2009

Globo-TV und der Bischof


Wer hätte das nicht schon länger geahnt? Dass die ach so edlen Pastoren der vielen evangelischen Freikirchen und Sekten hier in Brasilien nicht immer rein spirituell motiviert sind? Hier auf dem Dorf jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass neben dem Groß-Unternehmer nur der Pastor ein neues Auto fährt und ständig schicke Anzüge trägt. Beachtlich ist auch, dass es in unserem kleinen Dorf gleich drei Kirchen solcher Gemeinden gibt. Muss alles finanziert werden. Also gehört es zumindest zum Pastorendasein dazu, ordentlich Spenden einzutreiben.

Kürzlich zeigte TV Globo in den Abendnachrichten Filmausschnitte, die scharf darauf schließen lassen, dass für den Bischof der Igreja Universal, Edir Macedo, das Spendensammeln längst zur Hauptbeschäftigung geworden ist: Während eines fröhlichen Bolz-Zusammentreffens mit anderen Unter-Pastoren seiner Kirche erzählt er seinen Jungs, wie sie die Gläubigen am besten um ihr Geld erleichtern. Und wird dabei ziemlich deutlich. Die Schäfchen sollten das eindeutige Gefühl bekommen: wenn sie spenden, kommen sie in den Himmel, wenn nicht, gehe es abwärts in die Hölle. Und dass die Pastoren dabei nur nicht zu zimperlich vorgingen, mahnt ihr Kirchoberhaupt: „Bescheidene Pastoren machen keine Schnitte“. Poltern und donnern muss der geistliche Geldeintreiber „ständig im Kampf gegen den Dämon“, ein Held sein, ein Retter – und vor allem ein Kämpfer für die Kirchenkasse. Selbst kann Macedo das übrigens bestens.

Mit dem reichlich fließenden Ablass-Geld lassen es sich die Kirchenoberen gut gehen. Während es bei unserem Dorfpastor nur für ein neues Auto reicht, so hat Macedo sich neben anderen Immobilien gleich zwei Wohnungen in Miami leisten können. Gemeinsam mit anderen Seelenhütern feiert er seine Erfolge bei – ebenfalls gefilmten – Ausflügen in die Inselwelt von Angra dos Reis oder bei fröhlichen Tänzen mit den Kollegen. Besonders spirituell wirkt das alles nicht. Besonders neu ist es aber auch nicht.

Problematisch wurde die materielle Ausrichtung des Bischofs vor allem dadurch, dass er 2007 den TV-Sender Record kaufte – und seitdem eifrig daran bastelt, dem bislang nie herausgeforderten brasilianischen Einschalt-Sieger TV Globo knallharte Konkurrenz zu machen. Ungeniert kopiert Macedo die erfolgreichsten Globo-Formate – und macht seine Kopie nicht selten besser als das Original: Kein Problem mit den Spenden-Milliarden. So gut läuft die kirchliche Vergnügungsmaschinerie, dass sie TV Globo in letzter Zeit bedrohlich nahe kommt – und den Spitzenreiter in der Gunst des Publikums gelegentlich gar überholt. Genau das dürfte der Grund sein, warum TV Globo den Laien-Filme über Edir Macedo ganze neun Minuten bester Sendezeit gewidmet hat.

Schön ist das sicher nicht für die Gläubigen, zu sehen, wie ihre geistigen Vorbilder grölend lachen über ihre eigenen plumpen Sammelmethoden. Wie sie sich auf die Schenkel klopfen und so gar keinen Respekt für ihre Schäfchen zeigen. Seit dem 10. August sind der Bischof und neun seiner Mitstreiter außerdem angeklagt wegen Bandenbildung und Geldwäsche – weil sie das Spendengeld ins Ausland verschafft und wieder zurück geschmuggelt haben sollen, um es so für ihre Zwecke umwidmen zu können.

Natürlich konnte der Oberpastor solche Angriffe nicht ewig schweigend hinnehmen. Am Wochenende ließ er nun - in einer entsetzlich langatmigen Antwort-Sendung im eigenen Sender - verbreiten, dass TV Globo selbst allerlei Dreck am Stecken habe, angefangen von behaupteten illegalen Verflechtungen mit am Fall beteiligten Richtern und Staatsanwälten bis hin zum angeblich von Beginn an illegalen Erwerb des ganzen Senders. Höhepunkt der Sendung war schließlich ein Interview mit Macedo, zu dem dieser – ganz der einfache Gottesmann – im selbst gesteuerten Privatwagen anrollte, und frech behauptete, die Spenden-Millionen würden ausschließlich zum Bau von Kirchen und für gute Werke verwendet. Seine Gegner bei TV Globo hätten Angst vor ihm und seinem Erfolg, sagte der Bischof. Früher hätten sie Angst gehabt, er könne sich zum Präsidenten von Brasilien wählen lassen, jetzt fürchteten sie, er könne höhere Einschaltquoten erreichen.

Zu den in den Nachrichten gezeigten Filmen und seinen eigenen hässlichen Worten darin, sagte der Bischof nichts. Statt dessen sprach er von religiösen Vorurteilen und rief dazu auf, „die Kirche müsse in diesen Zeiten harter Angriffe besonders stark wachsen.“

Ich fürchte, die Schäfchen werden ihm auch das abnehmen. Was ist anderes von Menschen zu erwarten, die glauben, sie kommen in den Himmel, wenn sie nur genug Spenden abdrücken?

Das Foto zeigt eine der Immobilien des Bischofs.

Dienstag, 11. August 2009

Der Tod auf dem Müll und das verkaufte Sofa

Es gibt hier in Brasilien einen Witz über einen betrogenen Ehemann. Was macht der Betrogene, als er erfährt, seine Frau hat auf dem Wohnzimmersofa mit einem anderen geschlafen? Er verkauft das Sofa.


In Maceió, der Hauptstadt des Bundesstaates Alagoas*, ist am 30. Juli ein Kind zu Tode gekommen. Der zwölfjährige Carlos André da Silva Santos war auf dem städtischen Müllberg eingeschlafen, und wurde am nächsten Morgen von einem Traktor überrollt, dessen Fahrer das Kind unter einem Haufen Pappe nicht gesehen hatte. Der Traktor zerquetschte den Kopf von Carlos, das Leben des Jungen war nicht mehr zu retten.

Natürlich erhob sich im Volk Empörung angesichts dieses grausamen Todes. Was hatte der Junge auf dem Müllberg zu suchen, fragten manche. Als sei es nicht hinlänglich bekannt, dass ganze Familien auf und neben Müllbergen leben, weil sie aus diesen ihren Lebensunterhalt heraus sammeln. Warum ist er eingeschlafen, fragten andere. Als sei es unvorstellbar, dass ein zwölfjähriger Müllsammler abends erschöpft zusammensackt, ohne sich groß darum zu kümmern, wo er sich gerade befindet. Wer ist schuld an diesem Tod, fragten viele. Vor allem, als bekannt wurde, dass genau diese Müllhalde eigentlich schon seit zwei Jahren hätte desaktiviert werden sollen.

In so einer Lage erwartet das Volk eine Aussage vom Bürgermeister. Und was sagte Cícero Almeida? Er sagte: „Der Müllplatz wird sofort eingezäunt und außerdem werden wir ihn grell erleuchten.“ Da er keine näheren Erklärungen zu diesen geplanten Maßnahmen lieferte, bleibt nur, zu spekulieren: Kinder, die trotz des Zauns künftig auf den Müllplatz klettern, sollen dort wenigstens nicht einschlafen können, weil das helle Licht sie vom Schlafen abhält? Kinder, die auf den Müllplatz wollen, sollen das Ziel ihrer Wünsche nur noch im hellen Licht anstarren können, wie eine unerreichbare Schaufensterauslage? Kinder, die statt zur Schule auf den Müllplatz gehen, sollen dort auf eine ganz andere Weise erleuchtet werden?

Sollte Cícero Almeida je von seiner Frau auf dem Sofa betrogen werden, ist wohl anzunehmen, dass er umgehend das Sofa verkaufen würde.


* Alagoas ist der brasilianische Bundesstaat mit dem zweitniedrigsten Index für menschliche Entwicklung (IDH).

Fotos: Müllhalde - cwollowski, Carlos André - www.tudonahora.com.br

Donnerstag, 6. August 2009

Erwachsener Ringelpiez im Regen


Ringelpiez ist so ein Wort, das meine Oma gelegentlich verwendet hat. Nach meiner Oma habe ich es glaube ich nie mehr gehört. Und mit Aerobic hat es sowieso nichts zu tun. Zu dem, was ich gestern erlebt habe, passt es trotzdem. Es gibt nämlich neuerdings einen Aerobic-Kurs hier im Dorf. Montag und Mittwoch abends, mit richtiger Lehrerin und mitten auf dem Dorfplatz - der ja seit dem letzthin erfolgten halbmillionenschweren Umbau erleuchtet ist, wie ein Fußballplatz. Erfahren habe ich davon beim Capoeira-Training. So als Tipp von einer rundlichen Mit-Capoeirista, wie wir Frauen uns noch ein bisschen fitter machen könnten für die schwereren Bewegungen. Der Aerobic-Kurs sei umsonst und echt gut.

Montag war ich in der Stadt und nicht rechtzeitig zurück. Aber gestern hatte ich nach der Bürozeit nur ein bisschen Yoga gemacht und nichts Dringendes vor. Schmiss mich also in Shorts, T-Shirt und Flip-Flops - meine Turnschuhe haben ja leider die Beuteltiere gefressen – und stieg den Hügel hinab zum Platz. Unterwegs traf ich einige, deren Bekleidung ahnen ließ, dass sie dasselbe Ziel hatten wie ich: knallenge, fluoreszierende Leggings, noch engere Tops, dazu nagelneue Turnschuhe und reichlich Deo-Duft. Auf den neuen Betonbänken am Platz saßen nochmal ein bis zwei Dutzend Wartende. Und es kamen immer mehr.

Punkt halb acht ging es los. Der Ringelpiez. Alle sollten wir uns an den Händen fassen und einen großen Kreis bilden. Es wurde eher ein großes Ei. Aus vielleicht 50-60 Dörflerinnen, von 16 bis 60 und einem Dörfler um die 60. Die Lehrerin, um die 50, knackiger Hintern und ziemlich runder Bauch, machte uns dann vor, wie wir uns in Form bringen sollten. Und zwar laut singend: „Ich trainiere meinen ganzen Körper… mit meinem Finger“, darauf folgen winzig kleine Drehungen des Zeigefingers, einmal links, einmal rechts. Weiter im Text: „Ich trainiere meinen ganzen Körper mit meiner Hand“, Drehung der Hand, einmal links, einmal rechts. „Ich trainiere meinen ganzen Körper… mit dem Arm“, frei schwingender Trizeps bei den meisten in der Runde zeigte: Wir haben diesen Kinderkram hier nötig. Weiter ging es mit dem lustigen Spruch für den Fuß, das Bein, die Hüfte, die Brust und den Hintern. Beim Hintern stöhnte meine Nachbarin, eine ältere Dame, und meinte: „Wenn das so weiter geht, dann lernen wir hier noch tanzen wie Maicon Jackson.“ Ich fand vor allem die Sprüche anstrengend. Die sang meine Nachbarin freudig im Chor mit.

Dann durften wir im Ei laufen, immer im Takt zu „Don‘t stop til you get enough“ – das sah leider bei keiner von uns so richtig aus wie bei Michael Jackson. Auf Zuruf der Lehrerin griff sich jede ihre Vorläuferin und auf ging‘s zum Ringelpiez mit Anfassen, wie meine Oma das genannt hätte: Paarübungen, bei denen wir uns an den Händen fassten, gegenüber standen, abwechseln die Beine hoben, in die Knie gingen, uns in den Hüften wiegten und so fort. Dabei begann es zu regnen. Erst sanft wie eine sprühende Erfrischung, dann immer stärker.

Während mir meine Gesichtscreme im Auge brannte, sprangen die anderen Mädels ungestört weiter herum. Ihre engen Lycra-Klamotten behielten auch klatschnass ihre Eins-A-Passform, während ich langsam aussah wie beim Wet-T-Shirt Contest. Keiner schien es etwas auszumachen, durch die Pfützen zu platschen. Wir hielten durch, eine ganze Stunde lang. Am Ende sagte meine Mit-Capoeirista fröhlich zu mir: „Und, ist doch klasse, oder?“ Dann schrie sie ihre Tochter an, die sich gerade aus dem Schutz des Vordachs einer Dorfkneipe hervor wagte: „Bist du wahnsinnig, geh sofort aus dem Regen!“ War wohl eher ein erwachsener Ringelpiez im Regen.

Montag, 3. August 2009

Schlagzeilen um ein phänomenales Dickerchen

Ist schon gemein, wenn jeder eine persönliche Schwäche sehen und darüber Witze machen kann. Schlagzeilen hat er deswegen mehr als reichlich wegstecken müssen: Er sei zu dick, er sei nicht in Form, er esse zu gern. Jeder Besuch im Grillrestaurant wurde kommentiert, Privatfotos genüsslich von der Klatschpresse zelebriert. Die immer besonders bissigen Engländern ertappten den Stürmer im vergangenen Jahr gar bei einer Auszeit wegen Verletzung in Calvin-Klein-Unterhose, mit Zigarette und einem Bauch, den sie fies mit dem einer im vierten Monat schwangeren TV-Moderatorin verglichen – dazu behauptete „The Sun“: Ronaldo und Louise Redknapp könnten locker ihre Klamotten tauschen. Das Belegfoto dazu:



Noch gemeiner die folgende Fotomontage, die eine Zeit lang auf diversen Sites zu sehen war:



Als selbst Präsident Lula dem Superstar während der Weltmeisterschaft 2006 Übergewicht unterstellte, schlug der endlich und treffend zurück. Das war nicht schwer, ist doch die empfindlichste präsidiale Schwäche hinlänglich bekannt: „Ich rede ja auch nicht über Lulas Alkohol-Konsum“, kommentierte Ronaldo in einem Interview. Seitdem herrscht prominentes Stillschweigen: keiner der beiden hat je wieder öffentlich an den wunden Punkt das anderen gerührt. Genutzt hat das dem Fußballer wenig: Die Fans ergänzten trotzdem frech seinen Spitznamen „das Phänomen“ zu „der phänomenale Dicke“.

Ob das an seinem Ego gefressen hat? Oder hat seine Frau Bia ein Machtwort gesprochen? Jedenfalls wollte der Dicke es eigentlich geheim halten. Tagelang wand sich sein Verein „Corinthians“ in Kommentaren wie: „Wer behauptet, er habe sich die OP nicht genehmigen lassen?", „Ja, der Verein weiß Bescheid, aber wir sagen nicht, ober er hat oder ob er nicht hat!“. Auch der Arzt hielt sich bedeckt: „das unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht.“ Und Torwart Felipe witzelte: „Falls er das gemacht hat, wird er noch schneller über den Platz fliegen als jetzt schon!“

Darauf darf man sich gefasst machen, denn jetzt ist es raus: Er hat! Nämlich: Fett von seinem phänomenalen Bauch absaugen lassen.

Zwei Gläser reines Fett sollen es gewesen sein, 700 ml mit einem Gewicht von 2 Kilo. Und zwar hat der Dicke das am vergangenen Mittwoch vor der ohnehin notwendigen Hand-OP machen lassen, um so die notwendige Schonzeit gleich doppelt zu nutzen. Die Spezialisten hatten natürlich sofort allerlei Kommentare bereit. Ein Schönheitschirurg behauptet: Alles im grünen Bereich – üblicherweise lassen sich die brasilianischen Männer zwischen 50 und 800 ml Fett aus den Flanken saugen, also liegt Ronaldo im statistischen oberen Mittel. Außerdem sei gerade diese Flankenfettansammlung genetisch bedingt und durch Gymnastik nicht zu besiegen. Fußballspezialisten behaupten, die Schönheits-OP könne den Spieler länger als die Hand-OP vom Rasen fern halten. Kollege Bill, der derweil als Stürmer beim Corinthians für den pausierenden Ronaldo einspringt, sagt halb solidarisch, halb im Scherz: "Fett habe ich mir bisher nicht absaugen lassen, aber mit dieser hässlichen Visage könnte ich eine Schönheits-OP gut gebrauchen."

Eins ist sowieso klar: Dick bleibt Ronaldo auch mit 2 Kilo weniger. Falls er sich die in den zwei bis vier Wochen Zwangspause nicht ohnehin wieder anfuttert. Egal.

Die Fans hat der Dicke nämlich längst auf seiner Seite. Nicht wegen der Fettabsaugerei, sondern wegen seiner phänomenalen Leitungen bei den brasilianischen Meisterschaften „Brasileirao“. Fan Nilson Cesar spricht in seinem Blog garantiert für viele: „Dieser Ronaldo ist wirklich phänomenal. Übergewichtig aber phänomenal! Er legt immer im richtigen Moment los und schafft es, auf minimalem Raum Wunder zu tun (…)! Ohne den Dicken ist der „Corinthians“ ein anderes Team! Er mag bei seinem ersten Auftritt ausgesehen haben wie ein Sumo-Ringer, aber er nimmt sein Comeback ernst. Ich würde ihn nach Südafrika mitnehmen! Glückwunsch, phänomenales Dickerchen!"

So wird die Schwäche womöglich noch zum Markenzeichen. Und mal ehrlich: so dick ist der Dicke nun auch wieder nicht!



alle Fotos aus dem Netz ohne Angaben zu den Fotografen

Montag, 27. Juli 2009

Romário, para onde?


Morgen, so berichtet die Zeitschrift Veja, wird eine Penthouse-Wohnung im Viertel Barra da Tijuca zwangsversteigert. Bisheriger Besitzer: Romário de Souza Faria, 43, Ex-Fußballer und einer der größten Stürmer der Fußballgeschichte. Während Ronaldo, das Phänomen, sich schwergewichtig und zielsicher in einen zweiten Aufstieg kickt, geht es mit seinem Ex-Kollegen steil bergab.

Dabei hatte der Mann sich erst letztes Jahr in die Rente verabschiedet – nachdem er mit den 1000 Toren des Idols Pelé gleichgezogen hatte (manche behaupten, er habe beim Zählen geschummelt und auch Trainingstore mitgerechnet). Damals hatten allein die beiden Vereine Flamengo und Vasco Schulden in Höhe von umgerechnet fast 10 Millionen Euro bei ihm. Der als großzügig bekannte Romário hatte den Vereinen in Finanzschwierigkeiten mit Privatkrediten ausgeholfen, damit sie ihre Spieler bezahlen konnten. Zu seiner aktiven Zeit war Romário der bestbezahlte Spieler Brasiliens: er bekam knapp 170.000 Euro monatlich bei eben den Vereinen, denen er später half.

Die einen nennen ihn „großzügig“. Dafür spricht die Geschichte, als Romário einem Kumpel seinen Ferrari geliehen hatte. Der Kumpel fuhr den Wagen unbeabsichtigt ziemlich Schrott. „Po peixe*“, soll Romário nur gesagt haben, „jetzt ist mein Wagen hin!“ Der Wahrheitsgehalt der Story ist nicht belegt – aber sie ist nicht unwahrscheinlich. Großzügig ging der Großverdiener auch mit seinen finanziellen Verpflichtungen um. Manche vergaß er einfach. So soll er die Nebenkosten seines Penthouses seit 2003 nicht bezahlt haben – insgesamt eine halbe Million Euro. Dazu kommen Steuerschulden in Höhe von 370.000 Euro. Wegen verschleppter Unterhaltszahlungen an seine beiden ältesten Kinder in Höhe von mehr als 30.000 Euro war er kürzlich sogar 22 Stunden im Knast.

Andere nennen ihn „verschwendungssüchtig“. Der Profi-Fußballer lebte nämlich gerne wie ein kleiner König. Er hielt sich fünf Luxuskarossen gleichzeitig - neben dem Ferrari einen Porsche, einen BMW, einen Volvo und einen Hummer. Mit seiner dritten Ehefrau lebte er in seinem mehr als 770 Quadratmeter großen Penthouse mit eigener Sauna, Dampfbad und Heimkino. Und umgab sich mit einem Hofstaat, der ihn nicht immer gut beriet.

Die Folgen: Nicht genehmigte und schlecht ausgeführte Umbauten an seinem Heim haben Wasserschäden bei den Mietern unter ihm verursacht. Einer zog deswegen aus und verursachte so jeden Monat knapp 9000 Euro Mietausfall für den Besitzer der Wohnung. Der klagt auf mehr als 800.000 Schadensersatz. Eine ebenfalls nicht genehmigte Veränderung an der Fassade brachte zusätzlich einen Prozess von der Hausverwaltung ein. Das Mindestgebot für Romários Heim sind 3,3 Millionen Euro. Ungefähr ausreichend um die summierten Zahlungsverpflichtungen von 28 Prozessen zu begleichen. Dann bleiben immer noch mehr als 40 Prozesse übrig.

„Manchmal fehlte ihm die Orientierung“, sagt sein Berater aus den Jahren 1996 bis 2002 heute. Der musste damals gehen, weil er von den Umbauten abgeraten hatte.

Und wohin geht jetzt Romário?

* Peixe - also auf Deutsch "Fisch" nennt Romário gern seine Freunde
Foto: brasileirao.com

Mittwoch, 22. Juli 2009

Partyspaß oder Sextourismus

Die endgültige Entscheidung steht noch aus. Vorläufig aber wird es den Cityguide „Rio for partiers“ weiter geben. Aufgekommen sind diese Art Miniführer in den 1990ern, als Beihefte mancher Zeitschriften. In weiter verkürzter Form drucken vor allem Frauenzeitschriften bis heute Kurzinfos über Städte, für den Wochenendbesuch oder gar den 24-Stunden-Super-Kurz-Trip. Scheint gut anzukommen, die Mischung aus knapper Kultur und reichlich Konsum. Vor allem, weil die praktischen Infos mit Adresse und teils sogar Fotos immer von sogenannten Insidern kommen. Was in Europa läuft, geht auch in Brasilien. Vor allem in Rio.

„Rio for Partiers“ wirbt damit, der „erste Führer“ zu sein, der von jungen Leuten für junge Leute gemacht sei. Geschrieben hat ihn ein Brasilianer, der laut Selbstbeschreibung, Schriftsteller und Redakteur ist und bereits in Rio, Chicago und Wien gelebt hat. Er wollte sich daran orientieren, so sagte Cristiano Nogueiro, der sich gelegentlich auch als Designer bezeichnet, bei der Vorstellung der aktuellen Ausgabe, welche Tipps er seinen ausländischen Freunden für ihren Rio-Besuch geben würde. Neben reichlich Angaben zum besten Sandwich und diversen Clubs, in denen diverse brasilianische Musikstile zu hören seien. Die der Autor den Fremden kurz umreißt, wie folgt: Rio Funk klingt so, als wenn ein Geistesgestörter nach einer Unterrichtstunde Keyboard spielt. Bossa Nova klingt nach 50er Jahre, Strand und Frank Sinatra. Pagode ist Samba, mit allem, was sich auf einen Tisch trommeln lässt.

Lustig, oder? Stolz berichtet Nogueira auf der Homepage seines Führers: „Das Buch verbreitet die humorvolle, joviale, moderne und sportliche Seite der fantastischen Stadt Rio de Janeiro und hat bereits drei internationale Preise für touristische Veröffentlichungen gewonnen.“ Im Grunde ist das immer der gleiche Preis: einer, der von der Amerikanischen Vereinigung der Reisejournalisten jährlich verliehen wird.

Obwohl das Heft seit Jahren so gut beim Publikum ankommt, hat das brasilianische Fremdenverkehrsamt Embratur versucht, es mit einer einstweligen Verfügung aus dem Verkehrt zuziehen. Grund für den Ärger: ein paar der Tipps unter Freunden unter dem Titel: „Umgang mit den brasilianischen Frauen“

- Versuch nicht, deine Brasilianerin am Strand aufzureißen
- Versuch, so schnell wie möglich mit dem Küssen loszulegen
- Bestehe nicht darauf, zu ihr nach Hause zu gehen, sondern schlag einen Spaziergang in eine Gegend mit vielen Motels vor

Zum vereinfachten Aufriss hat Nogueira Rios Frauen kategorisiert. Möglicherweise uninteressant, jedenfalls nicht näher beschrieben, erscheint da zunächst das „normale Mädchen“. Es folgen:

- Typ Britney Spears. So etwas wie höhere Töchter. “Schön aber lassen nicht mit sich flirten”. Tipp: Lass sie links liegen.
- Typ Hippie oder Raver. Leicht anzuquatschen. Schwer zu küssen. Leicht, mit ihnen zu trinken und sich zu amüsieren.
- Typ über 30. Tanzen, trinken, küssen und vergnügen sich gern. Behandele sie wie eine Dame und du wirst ihr König sein, wenn nicht heute nacht, dann mit Sicherheit morgen.
- Typ Knackarsch. Sexmaschinen, die ins Fitnesstudio gehen und hautenge Hosen tragen. Immer eine gute Investition, da das Motel bei diesen Mädels immer im Bereich des Möglichen liegt.

Mag sein, dass der gemeine männliche Rio-Besucher tatsächlich Anderes im Sinn hat, als der männliche Besucher von, sagen wir, Wien oder Chicago, Städte für die Nogueiro bezeichnenderweise keine Cityguides veröffentlicht hat. Mag ebenfalls sein, wie Blogautor Alex M. Costa schreibt, dass Sextourismus in Brasilien keinerlei Förderung mehr benötigt, weil Schweinereien hierzulande sowieso an der Tagesordnung sind, vor allem in der Politik. Mag auch sein, dass die brasilianischen Frauen die schönsten der Welt sind, wie in einem anderen Blog behauptet wird. Nogueiras Freunde – und das erwartet er auch von seinen Lesern - jedenfalls haben eindeutig nur eines mit ihnen vor. Das finde ich durchaus bedauerlich.

Ob es aber tatsächlich diese Formulierungen waren, über die sich die Leute von der Embratur aufegergt haben, mag dahin gestellt bleiben. Der Führer ist nämlich bereits zum sechsten Mal erschienen – mit genau diesen Aussagen. Ein Leonardo Name hat vor Jahren in einer wissenschaftlichen Arbeit über „Rio for partiers“ dessen Zielgruppe seinerseits so kategorisiert: mit „junge Leute“ seien offensichtlich weiße, männliche, heterosexuelle Vertreter der Bourgeoisie gemeint – die ihre Selbstbestätigung durch das Praktizieren exhibitionistischer Sportarten und das respektlose Behandeln von Frauen bezögen. Kurz, ein Typ, der in Brasilien (vor allem in Rio) durchaus kritisch als „Playboy“ bezeichnet wird.

So weit, so bekannt. In diesem Jahr allerdings haben sich die Guide-Macher erdreistet, auf ihr Heft das offizielle Brasil-Logo der Embratur zu drucken, Und das ging dann wirklich zu weit. Gestern hat der Richter vorläufig entschieden: Nein, „Rio for partiers“ verletze nicht die nationale Politik der Embratur (die bekanntlich seit Jahren gegen das stereotype Bild eines Brasiliens voller halbnackter Sambatänzerinnen anwirbt). Nein, es verletze auch nicht die Würde der brasilianischen Frau. Also darf Nogueira schon mal fleißig Hefte nachdrucken: Die kostenlose Publicity dürfte die Nachfrage gewaltig steigern.
 
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