Freitag, 30. Januar 2009

Der Jeitinho in der Krise


In jedem Reiseführer steht er beschrieben: der brasilianische Jeitinho, der auch in der größten Unmöglichkeit immer noch einen Ausweg möglich macht, mit viel Kreativität, Flexibilität und Sinn für Humor – nur manchmal gefährlich nah an der Grenze der Gesetze. Per Jeitinho habe ich schon einen Augenarztbesuch für die Hälfte des üblichen Honorars bekommen – weil ich nicht mehr Geld dabei hatte und ein Notfall war. Ich habe illegal Käse eingeführt – weil ich beinahe in Tränen ausgebrochen bin, als der Zöllner mir erklärte, dass Käseeinfuhr verboten sei und meine Kostbarkeiten von Rechts wegen in den Müll müssten. Ich habe Banken nach Ende der Öffnungszeit betreten und von Busfahrern Kekse geschenkt bekommen, kurz: Ich habe gelernt, dass es keine ausweglosen Situationen gibt. Nach all den wunderbaren Ausnahme-Regelungen der letzten Jahre lautet meine normale Reaktion auf eine unangenehme Sachlage inzwischen: „Lässt sich da denn kein Jeitinho finden?“ Es lässt sich meistens einer finden.

Sogar in der Krise. Die zwar laut Lula das Land höchstens streifen wird, aber trotzdem bereits hier und da zu spüren ist. Zum Beispiel bei den Angestellten in der Motorradfabrikation in Manaus. Der Verkauf von Motorrädern ist stark zurückgegangen, die Produktion läuft lahm. Mit Jeitinho haben die Firmen trotzdem 4000 drohende Entlassungen verhindert. Ihr Rezept ist einfach: Kurzarbeit. Die Monteure schuften einen Tag weniger pro Woche, genießen ein langes Wochenende und behalten alle ihren Job. Der Clou dabei: Das geht ohne Lohnkürzung. Weil die Firmen sich ausgerechnet haben, dass sie an dem einen Tag pro Woche so viel an Strom, Transportkosten und Kantinenessen einsparen, dass sie den Arbeitern getrost die normale Summe auszahlen können. Außerdem hat die Firma die nicht gearbeiteten Stunden sozusagen gut: Sobald das Auftragsvolumen wieder steigt, können sie ihre Jungs so lange kostenlos zu Überstunden verpflichten, bis das Konto wieder ausgeglichen ist. Das spart Bürokratie-Aufwand, Unmut unter den Arbeitern und bares Geld.

Schlechter dran sind die Müllsammler: Sie bekommen wegen der gesunkenen Rohstoffpreise nur noch 5 Centavos pro Kilo Alteisen - und damit ein Sechstel dessen, was die Schrotthändler ihnen noch im November letzten Jahres bezahlt hatten. Kupfer und Plastikflaschen bringen noch die Hälfte, Aludosen ein knappes Drittel und Pappe ein Viertel des alten Preises. Wenn man bedenkt, dass der normale Müllsammler ohnehin bis zu zwölf Stunden am Tag unterwegs ist, kann er die Verluste durch Mehrarbeit kaum ausgleichen: Da steckt dann sogar der Jeitinho in der Krise.

Foto: Papiersammler Gilson in Rio de Janeiro am Ende eines Arbeitstages (wollowski)

Samstag, 24. Januar 2009

Effizienz gegen Boxer und für Terroristen


Erinnert sich noch jemand an den Fall der kubanischen Boxer? Die im vergangenen August bei den panamerikanischen Spielen in Rio verschwanden, einen Vertrag mit einem deutschen Promoter unterschrieben – und bevor sie nach Deutschland ausreisen konnten, von der brasilianischen Polizei an einem Strand aufgegriffen wurden, als sie gerade den Sonnenuntergang betrachteten? Aufgegriffen, verhaftet und in Rekordzeit nach Kuba abgeschoben? Bis heute ist unklar, ob die ungewohnte Effizienz bei dieser Aktion auf ein kleines Telefonat unter den Amigos Lula und Fidel zurück zu führen ist oder nicht. Justizminister Tarso Genro leugnete damals jegliche Einflussnahme der kubanischen Regierung auf den Fall.

Dieses Mal hat Lula den bewiesenen Bitten der italienischen Regierung nicht nachgegeben. Battisti wird nicht ausgeliefert, sondern darf hier bleiben. Als politischer Flüchtling. Zu Hause drohe ihm Gefahr für sein Leben, sagt Minister Tarso Genro über den Asylbewerber, der in Italien für zweifachen Mord und zweifacher Beteiligung an Morden zu lebenslänglicher Haft verurteilt ist. Er habe keine Gelegenheit zu seiner Verteidigung gehabt, sagt Tarso über den 54jährigen, und: Sei Battisti rechter Extremist, wäre seine Entscheidung nicht anders ausgefallen. Von wegen, schimpfen Kritiker. Tarso habe nach dem Gefühl entschieden. Nur weil der ehemals selbst militante Linke mit dem Italiener sympathisiere, habe er Battistis Asylantrag statt gegeben.

Dafür spricht die Tatsache, dass Tarso Genro im Fall Battisti auf das üblicherweise vorgeschriebene Urteil des Obersten Gerichtshofes verzichtete und lieber gleich selbst den Fall regelte – gegen die Analysen sowohl des Nationalen Flüchtlingskomitees als auch der Oberstaatsanwaltschaft. Das diplomatische Verhältnis zwischen Italien und Brasilien hat das empfindlich gestört. Auch andere europäische Stimmen reagierten kritisch: Der britische Economist schreibt sarkastisch, in Rio lasse es sich für europäische Verbrecher offensichtlich gemütlich leben. Schließlich hatte schon der britische Posträuber Ronald Briggs viele Jahre ungestört in Rio gelebt, statt in England seine Strafe abzusitzen.

Battisti erwartete seit 2007 in Haft in Rio das Urteil über seinen Asylantrag. Er leugnet jede Beteiligung an den Morden in den 1970er Jahren. Laut Tarso Genro stützt sich seine Verurteilung auf die Aussage eines einzigen Zeugen – ebenfalls ehemaliges Mitglied der linksextremen Organisation PUC, die der Roten Brigade nahe stand. Vielleicht ist Battisti tatsächlich zu Unrecht verurteilt. Vielleicht ist er sogar tatsächlich in italienischen Gefängnissen lebensgefährdet.

Aber was verleitet den brasilianischen Justizminister zu der Annahme, in Rio sei Battisti sicherer? Dafür fehlt es der hiesigen Polizei womöglich doch noch an Effizienz.

Fotos: www.tribunalatina.com und www.republicca.it

Mittwoch, 21. Januar 2009

Wer will denn noch Mangos!


Damals habe ich es nicht verstanden. Als ich das erste Mal einen Spaziergang hier durch den Wald machte und es auffällig nach Vergorenem roch, dachte ich flüchtig an Open-Air-Partys, Vollmondfeste und verschütteten Schnaps. Später entdeckte ich, dass der Geruch von den Mangos ausging. Braun verfärbte, Orange leuchtende, Grün schimmernde Früchte lagen zu Dutzenden auf dem Waldboden und verwandelten sich in Alkohol. Anscheinend wollten nicht mal die kleinen Pinselschwanzäffchen sie fressen, die sich hier überall auf den Zweigen tummeln. Und notleidende Menschen gab es wohl auch keine, die ihren Speiseplan mit Mangos aufbessern wollten. Seltsam, fand ich.

Mangos gehören zu meinen Lieblingsfrüchten, verfeinern das morgendliche Shake und den Salat und können gar nicht reichlich genug vorhanden sein. Im vergangenen Sommer habe ich rucksackweise unreife Mangos im Wald gesammelt und daraus Chutney gekocht. Und aus den allerletzten reifen Früchten eine Marmelade probiert, die so fein wurde, dass die wenigen Gläser leider nur ein paar Tage hielten.

Als ich im letzten grauen und verregneten Tropen-Herbst, damit beschäftigt war, das kleine Fischerhäuschen zu renovieren, in dem ich seitdem wohne, habe ich zwischendurch die Blätter im Garten zusammen geharkt und höchst erfreut mitten im Laub ein paar gnadenlos zerpickte dunkelgrünbraune Früchte entdeckt. Mangos. Aus der zweiten, weniger hübschen und ertragreichen Ernte des Jahres. Ein Blick nach oben bestätigte: auf dem Nachbargrundstück ragte ein imposanter Mangobaum in den Himmel, dessen Äste teils bis zu mir herüber wuchsen.

Zuerst warf der Baum Blätter zu mir. Reichlich. Täglich. Geduldig kehrte ich seinen Abfall in einer Gartenecke zusammen und wiederholte dabei jeden Tag Mantra-artig zu mir selbst und zur Nachbarin, die mir beim Harken zusah: „Das ist nur der Anfang, später wird er Mangos zu mir werfen!“ Später segelten außer dem Laub auch vorzeitig abgefallene Blütenstände herüber. Wenn sie ins Waschwasser fallen, machen Mango-Blüten hässliche braune Punkte auf die Wäsche, die sich nur mit Extra-Seife und viel Rubbeln wieder entfernen lassen. Manchmal vergaß ich über dem Rubbeln beinahe das Mantra.

Nach Monaten des Mantra-Aufsagens, des Kehrens und Rubbelns bildeten sich zwischen dem dunkelgrünen Laub allmählich kleine grüne Früchte. Noch später fielen so viele Mini-Mangos unreif bei mir in den Sand, dass ich beinahe die Hoffnung auf eine Ernte verlor: Vielleicht war der Baum zu alt und konnte die Früchte nicht mehr halten?

Dann endlich war es so weit. Eines Morgens vor ein paar Wochen öffnete ich meine Gartentür und da lag eine wohl geformte grüne Frucht im Sand. Meine erste Mango. Sie war nicht zu hart und nicht zu weich, ihr Fruchtfleisch von exquisitem Zart-Orange und so zart wie Butter – ohne die lästigen Fasern, die zwischen den Zähnen hängen bleiben. Ich schnitt sie in mein morgendliches Shake und trank es nahezu andächtig und schluckweise. Am nächsten Morgen fand ich fünf Mangos. Genug für Shake und einen frischen Fruchtsaft. Jedes Mal, wenn draußen ein dumpfes Plopp ansagte, dass wieder eine reife Frucht mir zugefallen war, sprang ich erfreut auf und sammelte meine Beute ein. Dann ging die Ernte richtig los, aus fünf wurden fünfzehn, und ich hatte alle Hände voll zu tun.

Das morgendliche Mangoshake war bald Routine. Außer zu Saft verarbeitete ich die Früchte der Reihe nach erst zu Speiseeis, dann schnitt ich sie in eine große Flasche, die ich mit braunem Zucker und Wodka auffüllte – das sollte in drei Monaten zu Likör werden -, und schließlich kochte ich einen Riesentopf voller Marmelade.

Am nächsten Tag hatte ich schon wieder eine Waschschüssel voller reifer Früchte. Und am übernächsten noch eine. Dabei waren das nur die schönsten, am wenigsten eingedellten: die unansehnlichen Exemplare nehme ich längst jeden Tag den Pferden als Leckerbissen mit. Letztens habe ich versuchsweise meiner Nachbarin ein paar Früchte angeboten, doch die alte Dame winkte nur müde ab: „Mangos“, sagte sei beinahe verächtlich, „wer will denn noch Mangos!“.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich nicht mit Mangos aufgewachsen bin und sie deswegen für mich irgendwie den Status von exklusiven exotischen Tropenfrüchten noch nicht verloren haben. Oder daran, dass ich als Kind einer Nachkriegsgeneration quasi genetisch darauf geeicht bin, kein Essen zu verschwenden. Jedenfalls kann ich die Mangos nicht einfach verrotten lassen. Jeden Morgen, wenn ich wach werde, öffne ich meine Gartentür und sammele nahezu zwanghaft alle reifen Mangos ein, die dort liegen. Ich zähle sie schon lange nicht mehr.

Außer allen verfügbaren Gläsern habe ich sämtliche Plastiktöpfe, Dosen und anderen halbwegs geeigneten Behältnisse mit Marmelade gefüllt. Wenn ich Freunde in der Stadt besuche, schleppe ich kiloschwere Plastiktüten voll Mangos als Gastgeschenk mit. In meinen Kühlschrank passt nichts mehr hinein, weil sämtliche Regale und Fächer voller Mangos sind. Wäsche wasche ich nur noch in einer kleinen Schüssel, weil alle anderen von Mangos besetzt sind.

Wenn es draußen ploppt, zucke ich nur noch zusammen - und lasse die frisch Gefallene liegen bis zum nächsten Großeinsammeln. Ich habe sowieso keine Gläser mehr, ich will keinen Salat und kein Eis mehr - und überhaupt habe ich mir heute zwei Ananas gekauft. Um endlich mal einen anderen Saft zu machen.

Wenn ich draußen die schwer herab hängenden Äste betrachte, dann ist kein Ende abzusehen. Vielleicht lasse ich morgen einfach alle Mangos liegen.

Samstag, 17. Januar 2009

Lula wirft zurück

Lula wirkt in letzter Zeit immer gelöster. Vielleicht liegt das an den sensationellen Umfrageergebnissen, die ihm eine Beliebtheit ohnegleichen bescheinigen.

Kürzlich musste der Präsident in Sao Paulo eine Ledermesse eröffnen – eigentlich kein sonderlich amüsanter Termin. Aber als sich da so die Fotografen um ihn drängten und vor ihm eine Reihe exklusiver Schuhe standen, griff sich der Präsident spontan einen davon, grinste wie ein Lausbub und drohte, die elegante Fußbekleidung auf die Reporter zu werfen: Großes Gelächter.

Lula hatte tatsächlich allen Grund, von Reportern genervt zu sein. Erst wenige Tage vorher hatte er seinen geplanten Urlaub auf der Insel Fernando de Noronha vorzeitig abgebrochen, weil die frechen Presseleute ihn und seine Frau ständig belagerten. Vielleicht auf der Lauer nach einem Badehosenfoto. Oder einem irgendwie gearteten Missgeschick. Statt leichte Beute zu bleiben, zog das Präsidentenpaar es vor, den Rest des Urlaubs irgendwo an einem Strand des Bundesstaats Bahia zu verbringen.
Seitdem trägt der Präsident eine kleidsame Bräune, ein gelöstes Lachen im Gesicht, möglicherweise volleres Haupthaar und einen ganz neuen Humor: „Natürlich wollte ich nicht wirklich werfen!“ wehrt er die Fragen der Presse nach dem erhobenen Schuh ab, „ich habe mich nur gegen eventuelle Angriffe von Ihnen gewappnet.“

Manche schimpfen, er hätte mit dem Schuh lieber Politiker bedrohen sollen als die Presse, und Fotografen beschweren sich grinsend über ihren neuerdings immer gefährlicheren Beruf. Dabei war die Schuh-Geste womöglich eine historische Wende im Verhältnis des Präsidenten zu den Medien: Weg von Zensurbestrebungen, hin zur Ironie. Schön wäre es.

Fotos: Jefferson Bernades/Preview.com

Mittwoch, 14. Januar 2009

Der Gouverneur und die Stromrechnung


Wenn meine Nachbarin nicht gefragt hätte, wäre es mir gar nicht aufgefallen: Die Stromrechnung von Dezember ist noch nicht gekommen. Ihre nicht, meine auch nicht. Dona Didi war deshalb besorgt, weil mit der hiesigen Stromversorgungsgesellschaft Celpe nicht zu spaßen ist. Spätestens bei der zweiten, am Fälligkeitsdatum nicht bezahlten Rechnung kommen die Herren mit der Leiter auf dem Auto und stellen die Versorgung ab. Gnadenlos.

Manchmal kommen sie sogar schon Tage nach Fälligkeit der ersten Rechnung. Wer dann bereits gezahlt hat, aber gerade nicht zuhause ist, kann Pech haben: Ist die Zahlung im System der Celpe noch nicht verzeichnet, tun die Männer ihren grausamen Dienst. Danach wieder ans Netz angeschlossen zu werden, dauert oft lange und kostet extra. Manche Witzbolde rufen hier in der Gegend wenn sie jemanden besuchen nicht „Hallo“ vor dem klingellosen Haus, sondern „Celpe“ – nichts könnte jeden Hausbewohner schneller aus dem Mittagsschläfchen aufschrecken. Kurz: Die Celpe ist unbeliebt. Sehr unbeliebt. Und ihre Forderungen sind normalerweise eher überpünktlich.

Waren sie auch im Januar. Zumindest bei diversen Regierungsgebäuden im Bundesstaat Pernambuco. Wer darüber einen Schreck bekam, war der Gouverneur Eduardo Campos persönlich. Die Rechnungen fielen nämlich außergewöhnlich hoch aus. Grund ist eine Tariferhöhung aus dem Jahr 2005, die damals als ungültig erklärt und nun drei Jahre später doch von einem Gericht als zulässig genehmigt wurde. Die entsprechende Summe schlug die Celpe einfach allen Stromempfängern auf die Dezember-Rechnung auf. Ohne Erklärung. Ohne zusätzliche Zahlungsfrist. Und unbesehen der Tatsache, dass in vielen Häusern längst nicht mehr die Stromverbraucher von 2005 wohnen und manche sogar den Besitzer gewechselt haben. Manche Rechnungen wurden durch die zusätzlichen Forderungen bis zu 300 Prozent teurer.

Der Gouverneur verwandelte sich angesichts dieser Rechnungen von einem diskret zurückhaltenden, immer ruhigen, meist verbindlich lächelnden Politiker flugs in einen Normalbürger und Stromverbraucher: Bei seiner Presseerklärung letzte Woche wurde der Mann so laut, wie man es sonst nur vom Beschwerdeschalter der Celpe kennt. Da brüllen – meist folgenlos – die unpünktlichen Zahler ebenso wie die vielen Stromverbraucher, bei denen ein oder mehrere Elektrogeräte Opfer einer der häufigen Schwankungen der Stromspannung geworden sind. Ich kenne Menschen, denen sind so in einer einzigen Nacht TV, Ghettoblaster, Kühlschrank und sämtliche Ventilatoren durchgebrannt. Nach zwei Tagen kam ein Celpe-Mann nachgucken. Bat sich weitere 24 Tage zur internen Prüfung seines Berichts aus. Seitdem wurde nichts mehr gehört. Bei Tropentemperaturen 24 Tage ohne Kühlschrank und Ventilator zu leben, ist nicht besonders spaßig.

Eduardo Campos war inzwischen bei der nächsthöheren Instanz, der Kontrollbehörde der Stromversorger. Vorläufiges Ergebnis: Mindestens müssen die Nachforderungen in Raten zahlbar sein. Außerdem wird geprüft, ob sie in der berechneten Höhe überhaupt zulässig sind. „Niemand soll die aktuellen Rechnungen bezahlen“ ruft der Gouverneur dem Volk Hoffnung zu. Das ist er sich selbst und seinen Wählern schuldig. Schließlich hat er im vergangenen Jahr das Rennen um die Wählergunst nicht zuletzt wegen seines Versprechens niedriger Stromrechnungen gewonnen. Seine eigene Rechnung ist erst mal aufgegangen: Seit dieser Erklärung und der öffentlichen Celpe-Beschimpfung sind die Sympathiewerte für den Gouverneur auf spektakuläre 87 Prozent gestiegen.

Meine Nachbarin Didi wartet trotzdem ängstlich auf ihre Rechnung: Politikern traut sie beinahe ebenso wenig wie der Celpe.

Samstag, 10. Januar 2009

Dürre auf dem Dorf, ein Ausweg und eine neue Morgengymnastik


Im Sommer kann das schon mal passieren. Gelegentlich kommt einfach kein Wasser aus der Leitung, ist einfach so, jeder weiß das, ich natürlich auch. Deswegen war ich besonders froh über den 1000-Liter-Wassertank in meinem neuen Heim. Mit den 1000 Litern habe ich im Oktober einmal eine ganze trockene Woche durchgehalten, inklusive Duschen, Spülen, Kochen und Pflanzen gießen. Habe ein spezielles Wasser-Spar-System entwickelt, in dem das Spülwasser in einer Schüssel aufgefangen und anschließend auf die Blumen gegossen wird, das Duschwasser wenigstens teilweise noch für die Klospülung zu verwenden ist, und so fort. Ich fühlte mich ziemlich pfiffig und außerdem sicher: Nie wieder würde ich von den knausrigen Wasserzuteilungen eines Vermieters abhängen, wie noch im vergangenen Sommer. 1000 Liter sind ein wunderbarer Luxus.

Meistens fehlt hier das Wasser nur kurz. Zum Beispiel ziemlich genau seit Sommeranfang regelmäßig am Wochenende - tagsüber. Ich halte das für eine heimliche Rationierung: vermutlich stellt das Wasserwerk die Versorgung zwischen halb sieben Uhr morgens und neun Uhr abends gezielt ab, damit die Sommergäste am Strand nicht dauernd das Wasser ihren Pools wechseln oder ihre Autos waschen. Kein Problem, gieße ich eben morgens früh oder abends spät, mache mich nur bei sprudelnd vollen Leitungen an die Großwäsche und verlasse mich ansonsten auf meinen Wassertank.

Das funktioniert bestens. Jedenfalls funktionierte es bis letzte Woche. Als am Samstag kein Wasser aus der Leitung kam, machte ich mir keine Gedanken. Als es abends immer noch nicht floss, dachte ich, es werde sicher am Montag wieder kommen. Am Dienstag goss ich die Pflanzen etwas sparsamer als sonst. Die Nachbarin sagte, eine Wasserpumpe sei kaputt, würde aber am Mittwoch wieder in Ordnung sein. Am Mittwoch musste ich sowieso in die Stadt fahren. Als ich am Donnerstag wieder kam, und schnell mein soeben benutztes Saftglas ausspülen wollte, tröpfelte es kurz spärlich aus dem Wasserhahn, dann war Ende. Offensichtlich war am Mittwoch keine Reparatur erfolgt. Ich drehte am zentralen Wasserregler, versuchte den Hahn im Bad und den im Garten. Nichts. Mein Luxus-Tank war leer. Keine Ahnung, ob das daran lag, dass ich ausnahmsweise meine Capoeirahose mit Wasser aus dem Tank gewaschen hatte. Ob ich beim Spülen nicht geizig genug gewesen war. Oder ob ich letztens einem Freund nicht so großzügig hätte gestatten sollen, dass er sich ausgiebig aus meinem Wassertank erfrischt. Jedenfalls hatte ich jetzt keine Dusche, um mir den Stadtstaub abzuspülen. Kein Wasser, um Essen zu kochen. Kein Gießwasser für die Pflanzen.

Als ich reichlich ratlos kurz darauf im Garten saß, rief mich meine Nachbarin. Genau die alte Dame, die sonst immer schon morgens um fünf ihre Hühner mit den wüstesten Schimpfwörtern anschreit. Sie mache sich Sorgen um mich, sagte sie. Sie habe ausnahmsweise ihren Tank aus dem Brunnen eines Bekannten füllen können, erklärte sie mir. Und schenkte mir zwei Eimer voll der Mangelware. Ziemlich selbstlos war das, vor allem, weil sie selbst nicht wusste, wann sie ihren Tank das nächste Mal würde füllen können. Mir wurde bald nach der ersten Freude über die Spende schmerzlich bewusst, wie wenig zwei kleine Eimerfüllungen sind: Nach einer Katzendusche und Mini-Geschirrspülung reichten sie gerade noch für eine Pro-Forma-Berieselung eines Bruchteils meiner Tomatenpflanzen.

Man soll in der Gegenwart leben und sich keine unnötigen Sorgen machen. Am Freitag nutzte ich also einen Reitausflug mit ein paar Urlaubern und badete schlau gleich im Fluss. Als ich später beim Wasserwerk anrief, sagte mir ein freundlicher Mensch, die defekte Wasserpumpe sei bereits zum zweiten Malk repariert (am Mittwoch habe es einen neuen Defekt gegeben) und würde soeben installiert: spätestens abends sei wieder Wasser in meiner Leitung. Nein, garantieren könne er das nicht, schränkte er seinen Optimismus auf meine misstrauische Nachfrage ein, aber die Techniker seien vor Ort und würden das Problem lösen.

Bis abends hatten sie es nicht gelöst. Glücklicherweise war ich zum Essen eingeladen und hatte weder mit Kochen noch mit Spülen ein Problem. In der Eile hatte ich nur die Pflanzen übersehen. Als ich nachts nach Hause kam, hatten nicht nur die Tomaten ihre Köpfe in einer resignierten Trauer gesenkt, die zum Herzerweichen war. Auch meine liebevoll gesetzten Papaya-Zöglinge drohten aufzugeben, und die Maracujá-Ranken wurden nur noch von den fremden Ästen gehalten, um die sie sich gewickelt hatten: Wenn ich nicht bald eine Lösung fand, würden sie alle sterben. Verzweifelt verteilte ich mein Mineralwasser auf die Traurigsten der Pflanzen und ging schlafen.

Morgens fand ich den Ausweg. Unten am Fuß des Hügels, auf dem oben mein Haus thront, wohnt eine Bekannte, die einen Brunnen hat. Von dort schleppte ich eimerweise Wasser den Hügel hinauf. Japsend und hechelnd. Bis alle ihren Rettungsguss abbekommen hatten. Ich darf das jeden Tag tun, sagt meine Bekannte. Ich darf auch bei ihr duschen, und wenn sie mal nicht zuhause ist, gibt es eine Dusche im Garten. Mache ich. Inklusive Haare waschen und allem Drum und Dran. Später. Jetzt muss ich mich erst mal von der neuen Morgengymnastik erholen.

Samstag, 3. Januar 2009

9000 Quadratmeter Beton und ein kleines Familientreffen


Wenn Sänger wie Caetano Veloso und Maria Bethania ihrer Mutter ein Denkmal setzen wollen, ist das einfach: Sie schreiben ein Lied. Oder mehrere. Das kostet nichts und wirkt einwandfrei: In Brasilien – und teilweise sogar darüber hinaus - ist Dona Canô beinahe ebenso bekannt, wie ihr Star-Nachwuchs.

Weniger künstlerisch begabte Typen haben es schwerer, ihre Erzeugerin für die Nachwelt zu erhalten. Dona Lindu kennt noch kaum jemand. Der nach ihr benannte öffentliche Raum Parque Dona Lindu in Recifes Strandviertel Boa Viagem war zwar eine kostspielige Angelgenheit, wurde aber erst vor ein paar Tagen eingeweiht. „Öffentlicher Raum“ sage ich, um mich aus dem örtlichen politischen Hickhack rauszuhalten, denn ob es sich bei dem Werk um einen Park handelt, darüber streiten sich die Recifenser seit vielen Monaten. Auf jeden Fall war er teuer: 29 Millionen Reais für rund 3,3 Hektar, ein Drittel davon, beinahe ein Hektar, bestehend aus Beton und bereits nach seinem Hundertsten geplant von Stararchitekt Niemeyer, der dafür die Summe von zwei Millionen berechnete. Das nennen jetzt manche größenwahnsinnig oder pharaonenhaft.

Angefangen hat es - zugegeben deutlich bescheidener - mit einer Idee der Stadtviertel-Bewohner. Die liefen immer wieder an dem riesigen Brachlandareal direkt am Meer vorbei und guckten begehrlich auf Kokospalmen und Büsche. Das teure Boa Viagem ist nämlich so trefflich und vor allem wirtschaftlich genutzt, dass für jeden Einwohner statistisch weniger als ein Quadratmeter Grünfläche bleibt. Weil dieses ungenutzte Grün keinem Investor gehörte, sondern der Marine, kommt irgendeiner auf die Idee, Unterschriften zu sammeln und eine Spende zu erbitten: die Marine soll das Filet-Grundstück an die Gemeinde Recife verschenken, damit die dort einen öffentlichen Park einrichtet. 17.000 Unterschriften kommen schnell zusammen. Das war im Jahr 2004.

Knapp ein Jahr später gelingt es dem Bürgermeister, nach Gesprächen mit der Aeronautica, dem Verteidigungsminister und anderen, endlich auch mit Präsident Lula über das Projekt zu sprechen. Von da an wird alles anders. Zwölf Tage nach dem Telefonat gibt Lula die Abtretung des Geländes an die Gemeinde bekannt, weitere zwei Wochen später sind bereits alle nötigen Dokumente unterzeichnet. Beeindruckend. Wessen Idee es dann war, das Ganze nach der verblichenen Mutter des Präsidenten zu nennen, verschweigen alle Beteiligten. Die Spitznamen von Mutter und Sohn passen jedenfalls prima zusammen; und Dona Lindus vollen Namen Eurídece Ferreira de Melo kennt vermutlich schon lange niemand mehr. Offizielle Begründung für die Namenswahl: Dona Lindu sei eine typische Nordostfrau, die mit ihren sieben Kindern ohne Mann vor Not und Trockenheit aus Pernambuco nach Sao Paulo floh – darunter, und das ist weniger typisch, der künftige Präsident Lula. Arschkriecherei nennen das manche böse. Dona Lindu sei nie auch nur bis nach Recife gekommen und habe erst recht nichts für den Bundesstaat und seine Bewohner getan, um ein so üppiges Denkmal zu verdienen. Ersatzweise schlagen unzählige Internauten in Kommentaren ihre eigenen Mütter, Großmütter, Cousinen und andere weibliche Verwandte als Namensgeber vor, die ebenfalls Kinder allein durchgebracht hätten. Oder wenigstens einen Künstler, Schriftsteller – kurz: einen nicht politisch besetzten Namen einer Person, die sich um die Stadt verdient gemacht hätte.

Dass Lulas Mama mit der Stadt Recife nichts zu tun hat, stört mich gar nicht so sehr. Eher schon, dass man aus den Luxus-Bauten des Parks nicht mal das Meer sehen können soll. Oder dass die heiß erwarteten, angeblich erwachsenen Bäume, die den Parkbesuchern Schatten spenden sollen, noch immer nicht gepflanzt sind. Oder dass die Planer mit der zum Denkmal gehörenden Skulptur „Os retirantes“, das die typische Nordostflüchtlingsfamilie darstellt, einem ungelösten Problem ein Denkmal gesetzt haben – und nicht etwa einer Lösung. Bis heute rattern Lkws voller Flüchtlinge aus dem ganzen Nordosten Richtung Sao Paulo – genau wie der, auf dem damals Lindu und Lula unterwegs waren (übrigens auf Freifahrschein, weil sie das Fahrgeld nicht aufbringen konnten – so großzügig sind die Lkw-Fahrer wohl heute nicht mehr). Weil bis heute keiner eine Lösung für die Probleme Hunger, Not, Trockenheit sowie Struktur- und Bildungsmangel im Nordosten gefunden hat. So gesehen wäre es doch eine hübsche Idee, in Rio demnächst ein Denkmal für die „Favelados“ aufzustellen, für all die Hunderttausenden Slum-Bewohner, die aus Not keine Alternative haben, als die billige Unterkunft im illegalen von Drogenbossen und paramilitärischen Milizen dominierten urbanen Raum.

Aber darum geht es natürlich gar nicht. Hier haben sich – so darf vermutet werden – Politiker und Geschäftsleute diverse Gefallen getan. Der scheidende Bürgermeister von Recife hat sein Großwerk geschickt noch schnell vor der Amtsübergabe eingeweiht und beim Präsidenten bestimmt auf längere Zeit einen dicken Stein im Brett. Womöglich nicht nur beim Präsidenten: Das neuste stadtplanerische Werk in Boa Viagem hat in seinen zwei Jahren Planungs- und Bauphase eine Kostenexplosion erlebt, die erstaunlicherweise kaum kommentiert wurde: die neuerdings genannten umgerechnet fast 10 Millionen Euro Gesamtkosten sind das Doppelte der ursprünglich veranschlagten Summe.

Wer sucht, findet weitere Unstimmigkeiten: So hat etwa die benachbarte Hauptstadt des Bundesstaats Paraiba ebenfalls ein Niemeyer-Werk bekommen. Ebenfalls einen sogenannten Park. Mit ganz ähnlichen Bauwerken und sogar deutlich mehr Grünfläche. Der ist allerdings viel billiger. Unter anderem (aber nicht nur!), weil Niemeyer den Joao Pessoanern das Projekt geschenkt hat. Ob er das bei den anderen Nordost-Städten, die sich bald ebenfalls mit Niemeyer-Parks schmücken können, ebenfalls getan hat, weiß ich nicht. Könnte aber sein, dass unser beileibe nicht reiches Recife den Prototyp für alle anderen mit finanziert hat. Dabei mag jeder selbst entscheiden, ob dieser Prototyp nun ein Park ist, ein Platz, ein Vergnügungszentrum oder antidemokratischer Frevel, wie manche behaupten.

Jedenfalls ist der Präsident persönlich zur Einweihungsfeier gekommen. Auch wenn noch nicht viel fertig war, und sich vor dem Rohbeton reichlich zerrupfte Rest-Palmen im heißen Sommerwind wiegten: Es gab ein hübsches kleines Familienfest mit Musik vom immerhin aus der Nachbarstadt Olinda stammenden Sänger Alceu Valenca und nur wenig Proteste. Wenn einer 23 Brüder, Cousins und Neffen um sich versammelt, kann man das doch ein kleines Familienfest nennen, oder? So viele Verwandte des Präsidenten waren gekommen, das Denkmal für Dona Lindu zu sehen. Wer weiß, vielleicht ist sie bald ebenso bekannt wie Dona Canô.
 
Add to Technorati FavoritesBloglinks - Blogkatalog - BlogsuchmaschineBrasilien